Kerstin Gier 2
beruhigend einen Flügel um mich legt. Ich sehe ihn von der Seite an, wie er gebannt das Schlüpfen unseres gemeinsamen Kindes beobachtet, das sich mühsam aus seiner Schale hervorpickt. »Es ist so schön, dass du jetzt bei mir bist«, sage ich leise. »Dass wir diesen Moment gemeinsam erleben dürfen.«
»Ja, das finde ich auch.« Seine Stimme klingt ganz belegt.
Eine halbe Stunde später ist es geschafft. Das niedlichste Kuckucksbaby aller Zeiten hat das Licht der Welt erblickt.
»Er hat tatsächlich meinen Schnabel geerbt«, sagt Karl voller Vaterstolz.
»Und das Brustgefieder meiner Mutter«, ergänze ich. In diesem Moment stößt Junior einen durchdringenden Schrei aus, der Rita fast vor Schreck aus dem Nest fallen lässt. »Worauf wartest du?«, frage ich halblaut. »Merkst du nicht, dass er Hunger hat?« Was habe ich da nur für ein Zuhause für mein Kind ausgesucht? Hilfe suchend sehe ich Karl an. »Sieh doch nur, sie hat noch nicht einmal für einen Happen gesorgt, den er nach den Strapazen essen könnte«, sage ich vorwurfsvoll, »was für eine Rabenmutter.«
»Sicher bringt sie ihm gleich etwas«, versucht Karl mich zu beruhigen, aber auch er scheint besorgt zu sein. In diesem Moment verlässt Rita das Nest und ruft Junior im Wegfliegen zu: »Keine Sorge, Rudi, Mami kommt gleich wieder und bringt dir was Schönes zu essen mit.« Entsetzt sehen Karl und ich uns an.
»Rudi?«, fragen wir beide gleichzeitig. Was für ein scheußlicher Name. Ungehobelt klingt er, und einfach dumm.
»Ich hatte gehofft, wir könnten ihn nach meinem Großvater väterlicherseits Kurt nennen«, erklärt Karl mit hängendem Kopf, und ich nicke begeistert.
»Das wäre ein wundervoller Name für ihn.«
»Aber es ist nicht unsere Entscheidung«, sagt Karl mit einem entschlossenen Ausdruck. »Komm jetzt. Wir haben ihn gesehen, er ist wohlauf, nun ist es genug. Du kannst hier nicht ewig sitzen bleiben.«
»Nur noch fünf Minuten«, bettele ich. »Ich möchte nur kurz sehen, was sie ihm zu essen bringt. Wusstest du, dass diese Vögel Dinge wie Beeren und Samen essen?« Entsetzt sieht er mich an.
»Das ist ja widerlich.« Ich nicke heftig.
»Eben. Vielleicht geben sie ihm diese kohlenhydrathaltige Diät, nur weil das gerade in Mode ist. Das würde er nicht lange … «
»Was ist? Warum sprichst du nicht weiter?« Wortlos deute ich mit dem Flügel auf Kurt/Rudi, der mittlerweile aufgehört hat zu schreien und stattdessen anfängt, mit seinen noch nicht geschlüpften Geschwistern zu spielen. Er stemmt die Beinchen kräftig ab und schiebt mit seinem hübschen Köpfchen das Ei neben sich in Richtung Nestrand. Ich brauche zwei Sekunden, bevor ich merke, was er vorhat: Er will sein Brüderchen aus dem Nest schubsen. Noch ehe Karl mich zurückhalten kann, stoße ich mich ab und fliege laut schimpfend zum Nest herüber.
»Kurt, was fällt dir ein. Lass sofort das Ei in Ruhe. Böser Junge. Böser Junge.« Vor Schreck hält Junior mitten in seiner Bewegung inne und blickt mich aus großen braunen Augen an, während ich neben ihm lande.
»Mama?«, fragt er verwirrt, und ich lege meine Flügel um ihn.
»Ja, ich bin deine Mama. Und das da ist dein Papa.« In diesem Moment landet Karl neben mir, und es wird reichlich eng in der kleinen Behausung der Rotkehlchen.
»Karla, was machst du denn da?«, fragt Karl wütend, doch als Kurt ihn ansieht und sein »Papa« zwitschert, ist es auch um ihn geschehen. Ich kann es ganz deutlich an seinen Augen ablesen, und selbst wenn er einen Rückzieher machen sollte, ist mir das vollkommen egal. Ich lasse Kurt nicht hier, bei diesen Fremden. Es ist doch eindeutig, dass er schon durch das Bebrüten durch jemand anderen als seine Mutter schwere psychische Schäden genommen hat. Warum sonst sollte er, kaum geschlüpft, voll ohnmächtiger Wut auf seine Geschwister losgehen?
»Mama und Papa sind ja da«, beruhige ich meinen Kleinen, der immer noch verständnislos zwischen uns hin- und hersieht. »Es ist alles in Ordnung. Wir nehmen dich jetzt mit nach Hause.«
»Karla!«
»Keine Diskussion«, sage ich scharf. »Fass mit an!«
Zwei Wochen später haben wir uns in unserem neuen Nest häuslich eingerichtet. Natürlich ist es durch den überstürzten Umzug noch etwas provisorisch, aber alles ist besser, als die Blicke und das Getuschel der Nachbarn hinter unserem Rücken ertragen zu müssen. Hier, am anderen Ende des Waldes, kennt uns niemand, und wir leben, wie ich es mir immer erträumt habe. Noch immer
Weitere Kostenlose Bücher