Kerstin Gier 2
klang noch ein bisschen kühler.
»Leider bin ich stocknüchtern, sonst hätte ich wenigstens eine gute Ausrede für den peinlichen Auftritt, den ich geliefert habe.«
»Ach Gott«, sagte Annika, plötzlich im Flüsterton. »Mir kommen gleich die Tränen. Nimm dich doch nicht so wichtig! Ich hab wirklich andere Probleme im Moment, als mir Gedanken über dich zu machen. Ich denke nämlich gerade über eine Petition an den lieben Gott nach, dass er doch bitte sämtliche Männer, in die ich mich wieder mal unglücklich verlieben könnte, auf den Mond schießen möge. Und gerade kommt Finn zur Tür rein, und ihm laufen die Tränen übers Gesicht. Gute Nacht!«
Knack. Sie hatte aufgelegt. Tobias stellte sich vor, wie sie ihren Sohn in den Arm nahm und tröstete. Er konnte beinahe ihre Stimme hören, wie sie Finn fragte, warum er denn weine, und er konnte beinahe Finn hören, wie er seiner Mutter erzählte, dass er von Rosine geträumt hatte, die versucht hatte, ihm etwas Wichtiges zu erzählen.
Tobias schaute noch einmal vom Schlafzimmerfenster aus in den Garten, der still und dunkel dalag. Wenn irgendwo eine schwarze Katze umherschlich, blieb sie seinen Blicken verborgen. Vielleicht war der dünne Schatten ja auch keine Katze aus Fleisch und Blut gewesen, sondern ein Schatten aus einer anderen Dimension. Vielleicht hatte dieser Schatten dem Garten, in dem er zu Lebzeiten zu Hause gewesen war, aus dem Himmel einen Besuch abgestattet. Einem Katzenhimmel, wo Katzen die Mäuse von selbst ins Maul sprangen und es überall nach Katzenminze und frischem Fisch duftete.
Als Tobias von seiner Dienstreise nach Hause kam, tauchte die Abendsonne die gelbe Hausfassade in ein warmes, goldenes Licht. Er hatte Annika eine Karte aus München geschickt, in einem Umschlag, damit niemand außer ihr sie lesen konnte: Hallo Annika, ich hoffe, du bist nicht mehr sauer. Herzliche Grüße, auch an Finn, von deinem Nachbarn Tobias.
Er hatte keine Antwort von Annika erwartet, aber sein Herz klopfte trotzdem, als er den Briefkasten aufschloss. Vielleicht hatte sie ihm ja doch ein paar Zeilen zurückgeschrieben? Nein, hatte sie nicht. Der Kasten war leer.
Tobias war gerade dabei, sein Köfferchen auszupacken, als es an der Wohnungstür klingelte. Draußen stand Finn.
»Hast du das geschrieben?«, fragte er ohne Umschweife und wedelte mit einem Blatt Papier, das er in der Hand hielt.
»Hallo, Finn. Was soll ich geschrieben haben?«
»Diesen Brief hier. Er lag gestern im Briefkasten.«
»Nein, hab ich nicht. Ich war auf Dienstreise in München und hab deiner Mutter eine Karte geschickt und dir Grüße ausrichten lassen.«
»Ich weiß, ich hab sie gelesen. Mama findet es komisch, dass du gedacht hast, sie wäre sauer, weil sie überhaupt nicht sauer war. Deine Schrift sieht ganz anders aus als die Druckbuchstaben im Brief. Aber das heißt nichts.« Finn sah Tobias so anklagend an, als habe die Kripo ihn bereits als Schriftfälscher verhaftet.
»Komm doch herein«, sagte Tobias. »Dann besprechen wir alles in Ruhe von Mann zu Mann.«
Der Brief war in Köln abgestempelt worden, erklärte Finn, als er mit Tobias am Küchentisch saß. Und er sei mit einem geschenkten Namen unterschrieben worden, nicht mit einem richtigen. Alle möglichen Leute könnten den Brief verfasst haben – auch Tobias.
»Ich nicht. Ich war in München. Ich kann nicht gleichzeitig in Köln gewesen sein, um von dort einen Brief abzuschicken.«
Finn sah ihn misstrauisch an. »Es könnte aber sein, dass du AUCH in Köln warst.«
»Theoretisch ja. Praktisch nein«, sagte Tobias energisch. Finn hatte Talent zum Staatsanwalt, keine Frage, dieses Kreuzverhör hatte es in sich. »Wenn du mir nicht glauben willst, zeige ich dir gerne mein Flugticket. Berlin-München, München-Berlin. Mit Datum. Jetzt bin ich aber neugierig, was ist das denn für ein geheimnisvoller Brief?«
»Ich hab eine Nachricht aus dem Himmel gekriegt. Von Rosine. Wenn alles wahr ist, was in dem Brief steht.«
Tobias zog die Augenbrauen hoch. »Eine Nachricht von Rosine! Das ist ja ein Ding …«
»Es kann aber auch sein, dass sich jemand einfach etwas ausgedacht hat.«
»Stimmt … Wäre das denn schlimm?«, fragte Tobias.
Finn senkte den Blick. »Ja. Und nein«, berichtete er der Tischplatte.
Tobias seufzte in sich hinein. Wo war Finns Gesprächigkeit geblieben? Man musste dem Jungen jedes Wort aus der Nase ziehen.
»Warum wäre es schlimm?«, erkundigte er sich geduldig.
Finn schaute ihm
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