Kerstin Gier 2
geradewegs in die Augen. »Weil ausgedacht heißt, dass alles, was in dem Brief steht, nicht wahr ist. Es stehen aber Sachen drin, von denen ich mir wünsche, dass sie wahr sind.«
»Okay. Und was ist der Teil an der Sache, der nicht schlimm wäre?«
Finn grinste übers ganze Gesicht. »Der Brief ist wie aus Harry Potter. Voll geil. Ich hab ihn schon 146 Mal gelesen. Soll ich ihn dir vorlesen?«
Dieses zutrauliche Grinsen und der Glanz in Finns Augen ließen Tobias zurücklächeln. »Ja, gern. Möchtest du ein Glas Apfelsaft? Dann liest es sich vielleicht besser.«
Finn nickte. Während Tobias Saft einschenkte, fiel ihm auf, dass er immer noch lächelte. Er fühlte sich nicht nur geehrt, dass Finn ihm seinen geheimnisvollen Brief vorlesen wollte. Er freute sich auch, den Bengel zu sehen und mit ihm zu reden. Nicht zu fassen, aber wahr.
»Also, es ist so: Den Brief hat jemand geschrieben, der sich Katzenträumer nennt. Er versteht die Katzensprache und kann im Schlaf in die Traumwelt reisen und Botschaften von Katzen empfangen. Das ist seine besondere, magische Aufgabe im Leben«, erzählte Finn so selbstverständlich, als erhalte er täglich Post von Menschen, die behaupteten, in übersinnlichem Kontakt mit Katzen zu stehen. »Das klingt natürlich sehr ausgedacht. Ausgedacht klingt auch, dass Rosine ihm angeblich meine Adresse gegeben hat. Ich kann mir nicht vorstellen, dass Katzen sich mit Postleitzahlen und Straßennamen und Hausnummern auskennen. Aber vielleicht tun sie’s doch:
Lieber Finn,
mein Name ist Katzenträumer. Das ist nicht der Name, der auf meiner Geburtsurkunde steht, sondern ein besonderer Name, der mir in einem Traum geschenkt wurde. Im alltäglichen Leben übersetze ich nichts, meine Arbeit hat mit Kindern zu tun. Aber in der Traumwelt, in der ich im Schlaf nach Belieben reisen kann, arbeite ich so: Ich treffe mich mit Katzen, die mir etwas Wichtiges mitteilen wollen, und wenn sie es wünschen, gebe ich etwas an bestimmte Personen in der Menschensprache weiter. Das ist meine geheime, magische Aufgabe im Leben, die ich erfülle, seit ich vor vielen Jahren nach einem Autounfall die besonderen Fähigkeiten entwickelte, die mich zum Gesprächspartner für Katzen in der Traumzeit werden ließen.
Du möchtest sicher wissen, wer mir deine Adresse verraten hat. Das war deine Katze Rosine. Ich habe geträumt, dass ich in meinem Bett lag, der Vollmond schien durchs Fenster herein. Da tauchte plötzlich diese dünne schwarze Katze neben mir auf dem Kopfkissen auf, und sie sagte mit dem Akzent der Berliner Stadtkatzen:
›Ich brauche deine Hilfe, Katzenträumer. Du musst Finn unbedingt einen Brief schreiben, damit er erfährt, dass ich im Himmel bin und dass ich dort sehr glücklich bin. Mein Stück vom Himmel ist eine Lichtung in einem Wald, durch die ein Bach fließt. Es ist immer warm hier, jeden Tag scheint die Sonne, die Luft duftet nach frischem Fisch, und ich habe einen weichen Schlafplatz aus Heu und Zweigen und Katzenminze. Es gibt jede Menge Mäuse hier, die mir ins Maul hopsen und lecker schmecken. Und ich bin nicht allein, ich habe Freunde gefunden! Ein Waschbär namens Puky wohnt in der Nachbarschaft, wir spielen oft zusammen. Und dann ist da noch Gertrud, die Eule, die auch ganz verrückt nach Mäusen ist und sich in den Igel Artur verliebt hat. Weil er so ein schickes Stachelkleid trägt und so klug ist, er ist nämlich ein Geschichtenerzähler. Für alle, die im Himmel sind, denkt er sich etwas Spannendes aus, wenn man ihn darum bittet. Richte Finn bitte aus, dass ich ihm das alles erzählen wollte im Traum, damit er sich um mich keine Sorgen machen muss, es gibt keinen Grund, wegen mir traurig zu sein. Aber er konnte mich nicht verstehen, obwohl ich ihn jede Nacht im Traum besucht habe und mir solche Mühe gegeben habe, deutlich zu sprechen, damit er mich versteht. Ich bin sehr froh, dass Artur der Igel mir von dir und deinen Künsten erzählt hat, Katzenträumer!‹
Das also wollte Rosine dich wissen lassen, lieber Finn. Ich bin froh, dass ich helfen durfte, und hoffe, dass du nun beruhigt sein kannst, dass Rosine glücklich ist.
Miaaaooouuuu ú von Rosine und dem Katzenträumer!
PS: Das heißt: Viele liebe Grüße!«
Finn legte den Brief auf den Tisch und sah erwartungsvoll hoch. »Krass, oder?«
»Extrem krass«, bestätigte Tobias. »Ich weiß gar nicht, was ich dazu sagen soll.«
Finn nickte. »Mama wusste auch nicht, was sie sagen sollte. Oma, Opa und Papa wussten’s
Weitere Kostenlose Bücher