Kerstin Gier 2
das zu wissen«, behauptete er. »Es liegt völlig klar auf der Hand.«
Sie musterte ihn eindringlich mit schief gelegtem Kopf, ihren Blick konnte man nur als spöttisch bezeichnen. »Aha, ist ja seltsam. Für mich liegt es überhaupt nicht klar auf der Hand. Kann es sein, dass du über mehr Informationen verfügst als ich?«
»Es ist … na, sagen wir, eine klar auf der Hand liegende Eingebung«, stotterte Tobias und wünschte von Herzen, es möge einen Knall geben und Annika samt ihrem Brief würde sich auf der Stelle in Luft auflösen.
»Tobias?«, fragte Annika jetzt ganz leise.
»Ja?«
»Hast du irgendetwas mit dem Brief an Finn zu tun?«
Tobias’ Herz rutschte mit einem Plumps in seine Magengrube, was ihn aber nicht daran hinderte, fieberhaft nachzudenken. Sollte er Annikas Frage mit einem schlichten ›Nein‹ beantworten, und ihr somit eine Lüge auftischen? Oder war die Stunde der Wahrheit gekommen? Dann müsste er ihr gestehen, dass er gleich nach der Ankunft in München mit seiner Schwester telefoniert hatte, die in Köln lebte. Ihm war während des Fluges völlig überraschend eine kleine Geschichte eingefallen. Noch überraschender war die auf dem Fuße folgende Idee gewesen, seine Schwester einzuspannen. Diese Eingebung war goldrichtig gewesen: Jeannette, die während ihres Studiums der Grundschulpädagogik einmal den Kurzgeschichtenwettbewerb einer großen Bank gewonnen hatte, bastelte aus Tobias’ Worten in Windeseile einen Brief für Finn zusammen. Und war begeistert, nicht nur über das Gemeinschaftswerk. »Mööönsch, Tobias«, hatte sie in ihrer temperamentvollen Art gesagt, »das ist ja der Hammer! Super Story, echt! So etwas Kreatives hätte ich dir nie zugetraut, du bist ja sonst so trocken. Und ich bin total gerührt! Ein Trostbrief für einen kleinen Jungen – ein Scheidungskind noch dazu! –, der seine Katze verloren hat. Das ist sooo süß! Und dabei kannst du Kinder nicht mal leiden!«
»Wer sagt, dass ich Kinder nicht leiden kann?«, fragte Tobias beleidigt.
»Du selbst«, sagte Jeannette und kicherte. »Ist Finns Mutter hübsch?«
Tobias hatte zugegeben, dass sie nicht hässlich sei, aber das tue nun wirklich nichts zur Sache. »Natürlich nicht«, hatte Jeannette gesagt und zugesichert, den Brief an Finn noch einmal sauber in Druckschrift abzuschreiben und gleich am anderen Morgen auf die Reise nach Berlin zu schicken.
Während Tobias’ Gedanken noch Purzelbäume schlugen, sagte Annika: »Du schaust so schuldbewusst aus der Wäsche, du HAST also etwas mit dem Brief zu tun!«
»Ich habe ihn nicht geschrieben. Und ich habe ihn auch nicht in den Briefkasten geworfen«, sagte Tobias, »aber es stimmt, dass …«
Annika hob die Hand. »Stopp. Ich möchte gar nichts weiter hören. Ich wollte nur wissen, ob ich mit meinem Gefühl richtig lag.« Ihr Gesicht verzog sich zu einem schelmischen Grinsen. »Und du bist ganz sicher, dass du mit meinem Brief nichts zu tun hast?«
»Absolut sicher. Und meine Schwester auch nicht. Sie wohnt in Köln und hat …«
Wieder hob Annika die Hand. »Schschscht! Ich will immer noch nichts hören. Aber ich will dir ein Geheimnis verraten: Ich bin zwar erwachsen, aber es geht mir wie meinem Sohn. Ich will glauben, dass Rosine im Himmel ist und dass es ihr gut geht.« Annika zog einen Umschlag aus ihrer Rocktasche und hielt ihn Tobias hin.
»Ich möchte, dass du Rosines neueste Botschaft liest. Aber erst, wenn ich zur Tür raus bin.«
»Okay …« sagte Tobias und griff nach dem Umschlag. Annika lächelte ihn an, dann tat sie etwas, womit er nicht gerechnet hatte: Sie stellte sich auf die Zehenspitzen und hauchte ihm einen Kuss auf die Lippen. Es war ein zarter Kuss, aber Tobias spürte ihn so intensiv, als hätte er Stunden gedauert.
»Danke. Für Finns Brief. Und dafür, dass du so bist, wie du bist.«, sagte sie noch. Dann war sie zur Tür hinaus, und er stand da wie gelähmt, mit wild klopfendem Herzen.
Tobias las den Brief erst am anderen Morgen. Der Morgen war normalerweise eine gute Zeit für ihn, besonders im Sommer. Duschen, rasieren, anziehen, den Kaffee per Hand filtern, ausgiebig frühstücken bei Radiomusik und dazu Zeitung lesen – all diese Rituale unterstützten sein inneres Gleichgewicht. Heute konnte von innerem Gleichgewicht trotz intensiver Körperpflege und frischen Brötchen vom Bäcker zum Frühstück, duftendem Kaffee und Tobias’ Lieblings-Hits im Radio nicht die Rede sein. Die Zeitung hatte er nicht angerührt,
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