Kerstin Gier 2
sondern immerzu den in Berlin frankierten weißen Briefumschlag beäugt, der auf dem Tisch lag und wie eine Zeitbombe vor sich hinzuticken schien. So kam es Tobias jedenfalls vor. Er hatte ein mulmiges Gefühl, was diesen Brief anging, ein ungeheuer mulmiges sogar. Name und Adresse von Annika Olsen waren aus bunten Buchstaben zusammengesetzt, die aus einer Zeitschrift ausgeschnitten worden waren. Tobias vermutete, dass auch der Brief, der in diesem Umschlag steckte, so gestaltet worden war, und als er es endlich über sich brachte, sich zu vergewissern, sah er, dass er Recht hatte. Und las:
Liebe Annika,
Rosine sagt, Tobias ist in dich verknallt.
Viele Grüße
Katzenträumer
Ach, du gütiger Himmel. Was war DAS ?! Erst einmal natürlich eine infame Unterstellung. Er war nicht verknallt in Annika, egal was so ein anonymer Schmierfink behauptete. Und selbst wenn es wirklich Rosine gewesen wäre, die diese Botschaft via Katzenträumer an die Erde gemorst hätte – das blöde Katzenvieh hatte schlicht keinen Schimmer! Das wirklich Dumme an der Sache war, dass Annika wusste, was da stand, und es womöglich glaubte. Peinlich, peinlich, noch peinlicher als sein Anruf bei ihr, dabei hatte er gedacht, der sei die Krönung aller Peinlichkeiten gewesen. Was war zu tun? Tobias schloss die Augen, um sich besser konzentrieren zu können. Die Lösung des Problems ließ nicht lange auf sich warten, ein logisch denkender Mensch konnte sich eben auch in einer Krisensituation auf sein Gehirn verlassen: Er würde den Brief in Annikas Postkasten stecken. Und wenn er ihr zufällig begegnen würde, würde er so tun, als ob nichts wäre. Falls sie den Inhalt des Briefes zum Thema machen würde, würde er total cool bleiben und sagen, dass sich da wohl jemand einen Scherz erlaubt hatte, hahaha … Wenn er, Tobias, in sie verknallt wäre, würde er das ja wohl wissen!
Tobias hätte tatsächlich beinahe angefangen zu lachen, so genial fand er diese Lösung des Problems, als die Logik ihm ins Ohr brüllte, dass aller Wahrscheinlichkeit nach nur zwei Personen als Urheber der ›Nachricht aus dem Katzenhimmel‹ in Frage kamen: Annika oder Finn. Da dämmerte ihm, dass eine Kampagne im Gang war: Man wollte ihn einfangen, kein Zweifel! Da war er, Tobias, ein durchaus attraktiver Single-Mann im richtigen Alter. Und da war sie – eine zugegeben sehr attraktive Single-Mutter, die einen Mann suchte, denn alle Single-Frauen waren auf der Suche nach einem Mann, egal, was sie behaupteten. Und da war noch ein ER – ihr Sohn Finn, der Tobias leiden mochte, ihn womöglich bereits längst zum Zweit-Papa erkoren hatte. Hilfe! Nichts wie weg!, schrillte es in Tobias’ Hirn. Er brauchte so schnell wie möglich eine neue Wohnung, weit weg von Annika und Finn. In der Mittagspause würde er sich auf die Suche begeben. Im Internet forschen und sämtliche Makler, die Berlin zu bieten hatte, zu Höchstleistungen anspornen. Wenn er Glück hatte und schnell einen Nachmieter für seine Wohnung fand, konnte er in kürzester Zeit hier raus sein.
Am Abend besichtigte Tobias tatsächlich schon eine Wohnung, die ihm sogar gefiel. Sie lag nicht so weit weg von Annika und Finn, wie er es gern gehabt hätte (das wären circa 400 Kilometer gewesen), aber 40 Minuten mit der S-Bahn waren okay. Wenn er dort wohnte, würde er den beiden aller Wahrscheinlichkeit nach nie wieder über den Weg laufen müssen. Die von einem jungen, dynamischen Makler angebotene Behausung war gut geschnitten, hatte einen Balkon und eine gute Verkehrsanbindung.
»Gibt es Kinder im Haus?«, erkundigte sich Tobias, als er neben dem Makler auf dem Balkon stand und hinunter auf den baumbestandenen Innenhof schaute.
»Nein. Das Haus ist sehr ruhig. Hier wohnen nur ältere Leute. Eine sehr angenehme Mietergemeinschaft, das kann ich Ihnen versichern.«
Tobias nickte. Seine Entscheidung war bereits gefallen, aber er wollte sicherheitshalber noch einmal drüber schlafen. Morgen würde er sich dann mit den üblichen Unterlagen um die Anmietung der Wohnung bewerben. In Berlin brauchte man dazu eine Menge Unterlagen, und es schadete nicht, wenn man auch Schuhgröße, Blutgruppe und Gewicht angab.
Tobias kam müde und hungrig zu Hause an. Jetzt bloß schnell etwas essen, ein bisschen fernsehen, dann schlafen, mehr erwartete er nicht vom heutigen Abend. Wenn er geahnt hätte, dass ihm Annika im Flur über den Weg laufen würde, wäre er später nach Hause gekommen. Oder früher. Oder gar nicht, er hätte
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