Kerstin Gier 2
sich in der Pension um die Ecke ein Zimmer für eine Nacht genommen.
»Hallo, Tobias«, sagte Annika leise. Ihre Haare waren genau wie gestern zu einem Zopf geflochten, und sie trug ein buntgeblümtes Kleid mit einer dünnen, roséfarbenen Wickeljacke darüber.
»Hallo, Annika.«
»Ich hab aus dem Fenster geschaut und dich kommen sehen. Ich würde dich gern etwas fragen …«
Neiiin! Bitte nicht!, schrillte es in Tobias’ Kopf, aber dank seiner ekelhaft guten Erziehung rannte er nicht schnurstracks in seine Wohnung und knallte die Tür hinter sich zu, sondern sagte:
»Was denn?«
»Du hast den Brief gelesen?«
»Ja. Ja, ich hab ihn gelesen. Ich wollte ihn dir schon wieder in den Briefkasten stecken, aber ich bin noch nicht dazu gekommen, ich mach’s gleich. Wenn du willst, hole ich ihn sofort … oder nein, ich erwarte gleich einen Anruf, ich mach’s später …« Ihm war vor lauter Aufregung und Verlegenheit so heiß, dass er sich am liebsten Hemd und Jeans vom Leib gerissen hätte. Seine Hand war schweißnass – wie gut, dass sie ihm nicht die Hand zur Begrüßung gereicht hatte.
Annika schaute ihn aus klaren, blauen Augen an. »Ist es wahr, dass du in mich verknallt bist?«
Vor Entsetzen wäre Tobias beinahe in Ohnmacht gefallen. Was fiel ihr ein, so plump mit der Tür ins Haus zu fallen?! Wusste sie nicht, dass es total unweiblich dazu war, solche Fragen zu stellen? Tobias fühlte sich einem Herzanfall nahe, und diese taktlose Gänseliesel war schuld und schien nicht mal zu wissen, was sie angerichtet hatte, denn sie fragte glatt noch einmal: »Bist du? Oder bist du nicht?«
Tobias schnappte nach Luft. »Ich … ich ziehe aus, ich habe mir eben eine Wohnung angeschaut, sehr hübsch, vierzig Minuten mit der S-Bahn von hier entfernt. Höchstwahrscheinlich ziehe ich schon nächsten Monat weg, ich muss nur noch einen Nachmieter finden. Der Balkon der neuen Wohnung geht nach Westen, ich hab mir immer einen Westbalkon gewünscht, damit ich noch die Sonne genießen kann, wenn ich von der Arbeit komme.«
Annika stand einfach nur da, ihre Arme hingen locker am Körper herab, der Kopf war leicht schräg geneigt – sie hielt ihn oft schräg, es war eine Angewohnheit von ihr. »Danke«, sagte sie jetzt. »Das beantwortet meine Frage.«
Tobias hätte jetzt erleichtert sein müssen, weil er mit großer Eleganz eine direkte Aussage umschifft hatte. Aber er fühlte sich nicht erleichtert, er fühlte sich einfach nur elend.
»Ich geh dann mal wieder rein«, hörte er. »Schönen Abend noch. Und Glückwunsch zur neuen Wohnung.«
»Ja, danke … Ich geh dann auch mal rein«, gab Tobias zurück.
In diesem Moment öffnete sich die Tür zu Annikas Wohnung. Finn, der nur mit Shorts bekleidet war, kam heraus, mit einem großen Zeichenblock bewaffnet. Wortlos marschierte er hinüber zu Tobias und hielt ihm den Block hin. In riesigen, ungelenken Druckbuchstaben stand dort mit rotem Filzstift zu lesen:
Hallo Tobias, Rosine sagt, ihr seid alle zwei verknallt.
Tobias fing an zu lachen, er konnte nicht anders. Schon stand Annika neben ihm und las laut vor.
»Nein, das stimmt nicht, Finn. Ich bin verknallt, aber Tobias nicht.«
»Das ist ja interessant«, sagte Tobias. »Wer hat gesagt, dass ich nicht verknallt bin?«
»Du«
»Wann?« Tobias verschränkte die Arme vor der Brust. Was hier abging, war ungeheuerlich. Es hagelte Unterstellungen, kein Mensch blickte mehr durch, und der Knirps, den er sich gerne zur Brust genommen hätte, um Licht ins Dunkel zu bringen, hatte sich mitsamt seinem Zeichenblock zurück in die Wohnung geschlichen. Tobias hätte seine linke Hand darauf verwettet, dass er, wie garantiert eben auch, durch den Türspion lugte.
»Na, eben«, sagte Annika und fuhr sich mit der Hand über die Augen. Weinte sie etwa? Tobias konnte es nicht ertragen, wenn Frauen weinten, es machte ihn fix und fertig. Auch ihre Nähe machte ihn fix und fertig, er konnte ihren blumigen Duft riechen. Er riss sich zusammen, so gut es ging, und informierte Annika, dass er seines Wissens nach über nichts anderes gesprochen hätte als über seine neue Wohnung. Das sei doch das Gleiche, gab Annika zurück. Nein, keineswegs, sie fantasiere sich da etwas zurecht! Tobias unterbrach sich, um sein blütenweißes Taschentuch aus der Hosentasche zu ziehen und seiner Nachbarin die Tränen abzutupfen, die ihr plötzlich über die Wangen liefen. Annika hielt ganz still. Dann sagte sie: »Warum finden wir nicht einfach heraus, wer in
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