Kerstin Gier 2
hatte. Lasse behauptete von Zeit zu Zeit, seine Schwester würde das Fremdwörterbuch und sämtliche Wikipedia-Einträge auswendig lernen. Aber das kümmerte Alma nicht im Geringsten; sie hatte ein dickes Fell.
»Was heißt Miraku-Dingsbums?«, fragte der sechsjährige Josha.
»Ich weiß nicht mal, was Consi-Dingsbums bedeutet«, sagte Michael mehr zu sich selbst.
Wie immer ließ Alma sich nicht lange um eine Erklärung bitten.
»Mirakulös bedeutet geheimnisvoll«, meinte sie zu ihrem kleinen Bruder gewandt, »und was ›Consilium‹ heißt, müsstest du eigentlich wissen, Papa! Du hattest doch Latein in der Schule.«
»Ist schon ein bisschen länger her«, erwiderte Michael. »Aber ich nehme an, es heißt so viel wie Plan oder Absicht.«
Alma nickte. »Gut aufgepasst, Paps.«
»Danke, mein Kind«, sagte Michael, und nur Franziska sah, dass seine linke Augenbraue leicht nach oben glitt.
Jedes der drei Kinder war hübsch. Lasse hatte grüne Augen, eine gerade Nase und einen schönen Mund. Almas Haare schimmerten im gleichen dunklen Braun wie Lasses, aber im Gegensatz zu ihm hatte sie keine Locken, sondern ebenso wie ihre Mutter glatte Haare, die ihr bis über die Schultern reichten. Ihre Augen waren groß und haselnussbraun, und beide Wangen zierten entzückende Grübchen. Wenn sie lächelte, konnte ihr kaum jemand widerstehen. Alma dosierte ihr unschlagbares Lächeln sparsam, damit sich seine Wirkung nicht abnutzte. Auch wenn sie das natürlich niemals zugegeben hätte. Alles, was die Zwölfjährige tat, war wohlüberlegt. Alma war ernst und »erschreckend klug«, wie ihre Eltern fanden. Ein Schuljahr hatte sie bereits übersprungen. Ihr Klassenlehrer hatte schon mehrfach empfohlen, Alma in eine Schule für hochbegabte Kinder zu schicken. Die nächste Einrichtung dieser Art lag jedoch 80 Kilometer von ihrem Wohnort entfernt und weder Franziska noch Michael waren bereit, ihre Tochter in ein Internat zu geben. Das Leben mit einem hochbegabten Kind war oft anstrengend – diese Anstrengung nahm von Jahr zu Jahr zu, und sowohl Franziska als auch Michael hatten immer öfter das Gefühl, dass es nicht mehr lange dauern konnte, bis Alma ihnen haushoch überlegen war.
Zur stillen Freude seiner Eltern entwickelte Josha sich altersgerecht und zeigte keine Anzeichen einer besonderen Begabung. Bezogen auf ihn gab es jedoch ein anderes Problem: Josha war ein bildschönes Kind. Seine Locken waren blond, hellblond, seine Augen strahlend blau, und seine Gesichtszüge wirkten wie gemeißelt.
Franziska hätte es vor Joshas Geburt niemals für möglich gehalten, dass Schönheit problematisch sein konnte. Aber sie war es. Denn egal, wo Josha sich aufhielt: Er wurde angestarrt. »Guck mal«, sagten die Leute, während sie hemmungslos mit dem Finger auf ihn zeigten, »was für ein bildhübscher Junge«.
Beinahe wöchentlich griff ein fremder Mensch auf der Straße in Joshas dichte Locken, oder ein altes Ömchen drückte einen herzhaften Kuss auf die Wange des »süßen Kleinen«. Fast alle Mädchen in der Klasse 1a der Gutenberg-Grundschule schwärmten für Josha – und von Zeit zu Zeit fand Franziska Zettel in seinem Schulranzen, auf denen in ungelenker Handschrift »Isch liebä dich« stand.
Josha machte die Bewunderung seines Äußeren nicht etwa eitel. Sie machte ihn still. Am liebsten saß er in seinem Zimmer, hörte CD s und baute sich eigene Welten aus Legosteinen. Nie – wirklich nie – sah man ihn vor einem Spiegel. Lasse hingegen stand oft vor dem großen Flurspiegel und begutachtete sich aufmerksam. Der Altersabstand zwischen ihm und Josha betrug neun Jahre, und der große Lasse hatte nur selten Lust, sich mit »dem Kleinen« zu beschäftigen. Alma hingegen war gern mit ihrem jüngeren Bruder zusammen. Sie saß oft auf seinem Bett und las, während Josha auf dem Boden baute. Manchmal erzählte sie ihm dabei etwas über Tiere, Pflanzen oder andere Länder. Josha hörte aufmerksam zu, obwohl er kaum etwas von dem verstand, was Alma von sich gab. Aber er blieb hartnäckig und fragte immer wieder nach.
»Also, was ist jetzt mit dem Miraku-Dingsbums-Consili?«
»Es geht um die Sommerferien«, setzte Franziska an. »Euer Vater möchte zelten gehen …«
»Camping ist total uncool«, wandte Lasse spontan ein. »Ich will in die Staaten.«
»An der Mecklenburgischen Seenplatte soll es sehr schön sein«, meinte Alma. »Dort liegt die Müritz, der größte See, der vollständig innerhalb Deutschlands liegt. Ich
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