Kerstin Gier 2
dass ich nicht aus Versehen irgendetwas rauspresse, was eigentlich lieber drinbleiben sollte.
»Sie haben es fast geschafft! Ich kann das Köpfchen schon sehen!« Das scheint ein Standardspruch zu sein. Zumindest habe ich ihn schon tausendmal bei »Hallo Baby« im Fernsehen gesehen. Und während ich noch versuche, mein Halbwissen über Geburten aus der hintersten Ecke meines Fernseh-Gehirns zu kramen (da habe ich sozusagen noch ein Zweitstudium absolviert), schreit Sibi sich die Seele aus dem Leib. Und es hört sich ganz nach dem Finale an.
» AAAAAAAAAAAAAAAAAAAAAAUUUUUAAAAAA !«
»Ja! Es ist da! Sie haben es geschafft!! Herzlichen Glückwunsch Frau Schuster! Sie sind Mama!!« Die weiße Lady scheint ganz entzückt zu sein von dem, was sie in Händen hält. Sie lächelt. Zumindest ihre Augen tun das, denn mehr kann ich von ihrem Gesicht ja nicht sehen. Als sie den Mundschutz vom Gesicht zieht, erschrecke ich mich allerdings, denn während sie das kleine Bündel in ihren Händen anschaut, formt sich ihr Mund zu einem erstaunten »Oh!«.
Sibi fällt zurück aufs Bett und atmet tief durch. »Boah, was bin ich geschafft! Das wurde aber auch langsam Zeit. Was ist es denn?«
Sven und sie wollten es spannend machen und haben deshalb immer Wert darauf gelegt, dass der Frauenarzt keine Andeutungen auf das Geschlecht der Brut macht.
Die weiße Lady schaut erst mich an, dann Sibi, und dann entströmt ihr ein »Öhm …« Die Sache kommt mir spanisch vor, und da ich neugierig bin, ob ich nun einen Patensohn oder eine Patentochter bekommen habe, stehe ich auf, stelle mich neben die Hebamme und starre auf das, was sie in ihren Händen hält. Es zittert, es lebt, und es sieht irgendwie süß aus. So auf seine ganz eigene Art.
»Nun macht es mal nicht so spannend. Sagt schon, was ist es?« Sibi streicht sich die vor Schweiß an ihrem Gesicht klebenden Haare zurück, stützt sich auf ihre Ellenbogen und versucht, zwischen ihre Beine zu schauen.
Ich schlucke, schaue noch einmal die Hebamme an, werfe dann einen Blick auf das Neugeborene in ihren Händen und blicke danach Sibi direkt in die Augen, während mir die wohl bescheuertsten Worte, die man in einer solchen Situation sagen kann, sprichwörtlich aus dem Mund purzeln:
»Es ist ein Wellensittich!«
Beide Frauen starren mich mit großen Augen an, und ich bekomme das Gefühl, als hätte ich gerade das Happy End versaut.
»Ein grüner!«
*
Einen Monat später.
»Ja, was macht denn der kleine Wellensittich? Eiiiitateiiitateiiii«.
Ich, die vor genau vier Wochen zu Tante Sophie ernannt wurde, schaue in das kleine Himmelbettchen, in dem Jules liegt und grinst, wenn ich ihm über die Wange streichle. Nein, Jules ist natürlich kein Wellensittich, sondern ein strammer Junge, der die blauen Augen von Sibi und das dunkle (nicht grüne!) Haar (und kein Gefieder!) von Sven geerbt hat.
Aber der Wellensittich war Auslöser für die Wehen meiner Freundin. Oder zumindest der Vorläufer. Ein paar Tage vor der Geburt zeigte sie mir nämlich sämtliche Geburtsvorbereitungsbücher, die es im Hause Schuster gab, und ich hatte mich in diese ganze Materie so hineingesteigert (schließlich weiß man ja nie, ob man nicht eines Tages Taxifahrerin wird und mitten in der Nacht eine hochschwangere Frau ins Krankenhaus bringen muss, bei der dann plötzlich die Fruchtblase platzt und man Geburtshilfe leisten muss), dass ich eines Nachts diesen Wellensittichtraum hatte, aus dem ich schweißgebadet aufwachte.
Natürlich erzählte ich Sibi am nächsten Tag direkt davon, und sie kam aus dem Lachen nicht mehr raus. »Das ist bestimmt ein gutes Zeichen! Ich meine, mal irgendwo gelesen zu haben, dass Träume von Wellensittichen immer Glück bedeuten!« Was natürlich Schwachsinn ist, aber eine hochschwangere Freundin sollte man nicht in Angst und Schrecken versetzen.
»Apropos Aberglauben …«, sagte ich. »Ich habe gelesen, dass es Länder und Religionen gibt, in denen der Mutterkuchen mit nach Hause genommen wird! Auch das soll Glück bringen!« Diese Erkenntnis hatte ich tatsächlich beim zufälligen Googeln gefunden und wollte mein Wissen direkt weitergeben.
»Iiiiih«, ekelte Sibi sich. »Wo gibt’s denn so was? Das ist doch reiner Humbug!«
»Warum ›iiiiih‹?«, fragte ich gespielt erstaunt zurück. »Ich finde das vollkommen okay. Der Mutterkuchen soll dann im Garten vergraben werden, und es wird ein Baum darauf gepflanzt. Wenn es Glück bringt – warum nicht? Und es hat doch noch
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