Kerstin Gier 2
fühle mich absolut überfordert.
Als ich die Tür öffne, steht meine Nachbarin (die leider auch gleichzeitig die Schwester von Sebastian ist, was bedeutet, dass sie sich meine Schwägerin nennen darf) Agathe vor der Tür. Die hat mir gerade noch gefehlt.
»Ach, habe ich doch richtig gesehen! Ich habe nämlich vorhin aus dem Fenster geschaut und gedacht Das könnte doch Sibi mit den beiden Rackern sein, und da dachte ich, ich statte euch mal einen kleinen Besuch ab!« Agathe ist selbst Mutter von fünf Kindern. In einem Wort: FÜNF ! Und sie ist das, was man wohl eine Übermutter nennt. Ich glaube, ihre Kinder haben in ihrem ganzen Leben noch keinen Atemzug getan, von dem Agathe nicht direkt Kenntnis genommen hat. Von einem Pups ganz zu schweigen. Und diese Luftausströmungen hat sie bestimmt alle fein säuberlich in ein Büchlein eingetragen. Natürlich gibt es für jedes Kind eines. Jedes in einer anderen Farbe. Und an den achzehnten Geburtstagen der Kinder wird sie die Bücher herauskramen und vor versammelter Mannschaft sagen: »Am 14. Oktober 2001 hast du zum ersten Mal gepupst! Aber so richtig laut! Ich habe extra drei Sterne hinter den Eintrag gemacht!« Und alle Verwandten werden den Eintrag staunend bewundern, während Agathe sich für die beste Mutter der Welt hält.
»Puuuuh, das riecht aber streng hier. Willst du dem armen Baby nicht die Windeln wechseln?«, reißt sie mich aus meinen Gedanken. Sie drängt sich an mir vorbei, bückt sich und kramt ein Spielzeugauto aus Sibis Tasche, um direkt mit Jules die Nähte auf dem Laminat damit abzufahren. Ich stehe einen Moment ratlos in der Gegend herum, bevor ich mich an ihnen vorbeibedrücke und ins Schlafzimmer husche, um Noels Windeln schnell zu wechseln. Den Würgereiz versuche ich zu ignorieren.
Bevor ich Noel aufs Bett lege, öffne ich das Fenster, halte dann die Luft an und befreie ihn von seinem Strampelanzug. Trotz aller Vorbereitungsmaßnahmen strömt mir ein beißender Geruch in die Nase. Ich schaue zur Seite, hechle, atme tief ein, halte die Luft an, öffne die Windel und überlege, wie ich nun weitermachen soll. Jetzt muss jeder Handgriff sitzen, damit es schnell geht.
»Du musst die Kacka jetzt erst mal schnell wegmachen, das wird sonst alles wund!«, ertönt es hinter mir. Ich drehe mich um und blicke Agatha an, die, aus welchem Grund auch immer, Luftschlangen in ihren Haaren hat.
»Jetzt guck doch nicht so. Du darfst das Kind nicht so lange nackig liegen lassen, es kann sich sonst verkühlen. Und jetzt läuft schon die ganze Kacke an der Windel vorbei. Ach komm, lass mich das machen!«, sagt sie entschlossen und stößt mich beiseite. Gar keine schlechte Idee. Soll doch die Übermutter die Kacka wegmachen.
»Jules, wo bist du?«, rufe ich, denn ich kann ihn im Flur nicht entdecken. »Hier!«, ruft er zurück. »Malen!« Die Stimme kommt aus dem Badezimmer, und als ich dort eintreffe, traue ich meinen Augen kaum. Jules sitzt auf dem Boden. Vor ihm ausgebreitet befinden sich all meine Lippenstifte, Rouges, Make-ups und, und, und. Er hat mein komplettes Schminktäschchen ausgeschüttet und gerade, als er in einen Lippenstift beißen will (den er zuvor auf den Fliesen verschmiert hat), kann ich ihm diesen noch schnell aus der Hand nehmen und schiebe die Sachen auf dem Boden zusammen.
»Wie sieht es denn hier aus?« Agathe steht mit dem frisch gewindelten Noel auf dem Arm hinter mir. Ehrlich gesagt nervt mich diese Frau. Aber ich will ihr auch nicht die Genugtuung geben, dass ich mit Kindern nicht umgehen könnte. Das hat sie mir nämlich vorgeworfen, als ich eins ihrer Kinder dabei erwischt habe, wie sie Rosen aus meinem Garten geklaut haben. »Du kennst dich einfach nicht mit Kindern aus. Diese kleinen Menschen sind nun mal neugierig und müssen alles ausprobieren!«, hat sie mir damals geantwortet.
»Kinder sind nun mal neugierig und müssen alles ausprobieren!«, kontere ich daher betont lässig, als würde der Versuch, Lippenstift zu essen, zu der gesunden Entwicklung eines Kindes dazugehören. Wär doch gelacht, wenn ich die dusselige Kuh nicht mit ihren eigenen Waffen schlagen könnte.
»Kinder müssen aber auch lernen, dass man nicht ALLES ausprobieren darf. Sie müssen Grenzen aufgezeigt bekommen. Nur dann können sie wachsen und reifen!«
Ja nee, is klar. Ich bücke mich, packe alle Schminkutensilien wieder zurück ins Kulturbeutelchen, drehe mich zu Agathe um und frage: »Ist sonst noch etwas? Hast du nichts zu tun? Kochen zum
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