Kettenreaktion - Die Geschichte der Atombombe
Erwin Schrödinger und der Mathematiker Hermann Weyl sind ständige Gäste bei Born. Inständig fordert Pauli seinen Freund Heisenberg in Leipzig auf, die geplante Sommerbergtour zu verschieben und sich dem Mondscheinclub in den Dolomiten anzuschließen. Insgeheim hoffen die Physiker, dass Heisenberg – vielleicht aus Solidarität mit seinem Lehrer Max Born – ebenfalls seine Professur niederlegt, um ein Zeichen zu setzen. Dass er sich aus der Umklammerung der Nazis, die jede seiner Aktionen misstrauisch belauern, beherzt befreien möge.
Werner Heisenberg aber zieht es vor, sich mit Max Planck zu verbünden. Gemeinsam versuchen sie, die emigrationswilligen, nichtjüdischen Kollegen zum Verbleiben in Deutschland zu bewegen und zumindest die Entlassungen prominenter jüdischer Physiker rückgängig zu machen. Wobei sie sich natürlich den Vorwurf einhandeln, den Rauswurf der zweiten und dritten Garnitur schweigend zu dulden. «Stille Diplomatie» nennen sie ihre Strategie der persönlichen Petitionen. Im Mai gelingt es Planck sogar, bis zu Hitler persönlich vorzudringen. Während des Gesprächs unterscheidet Planck zwischen den «für die Wissenschaft ‹wertvollen› und den ‹wertlosen› Juden …» [Now:145]. Seine Warnung vor den verhängnisvollen Auswirkungen des Arierparagraphen für die Wissenschaft führt zwar zu keiner einzigen Wiedereinstellung. Allerdings verspricht Hitler ihm keine über das Beamtengesetz hinausgehende Behinderung der Forschung. Im Gegenzug sorgt Max Planck als Präsident der Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft für rasche Entlassungen jüdischer Mitarbeiter in seinem Geschäftsbereich und versichert Hitler eine Woche später, «dass auch die deutsche Wissenschaft bereit ist, an dem Wiederaufbau des neuen nationalen Staates, der ihr Schutz und Schirmherr zu sein gewillt ist, nach besten Kräften mitzuarbeiten» [Now:145]. Die deutschen Hochschullehrer werden keine einzige gemeinsame Protestnote gegen die Diskriminierung ihrer jüdischen Kollegen herausgeben. Der niederländische Physiker Samuel Goudsmit, der inzwischen an der University of Michigan in Ann Arbor arbeitet, sieht als Folge der antisemitischen Beamtenpolitik bereits voraus, dass Deutschland zu einer fünftrangigen Wissenschaftsnation verkommt [Pau 2 :207].
Während Max Born sich in Südtirol für das Angebot des Cavendish-Labors in Cambridge entschieden hat, gibt dessen Leiter Ernest Rutherford bei einem Vortrag eine persönliche Meinung ab, die Leo Szilard bei der Zeitungslektüre im Londoner Imperial Hotel hochschrecken lässt. Beim Jahrestreffen der British Association for the Advancement of Science am 11. September 1933 in Leicester hält Rutherford zwar die Umwandlung aller bekannten Elemente durch den Beschuss ihrer Atomkerne in nächster Zeit für wahrscheinlich. Dennoch lehnt er die optimistische Vorstellung mancher Kollegen rigoros ab, den Atomkern mit geeigneten Methoden aufknacken und die enorme Bindungsenergie freisetzen zu können, die den Atomkern zusammenhält. «Talking moonshine» – dummes Geschwätz – nennt er diese hochfliegenden Ambitionen, sich von der Umwandlung der Atomstruktur eine nutzbare Energiequelle zu versprechen [Szi:17]. Was Szilard einigermaßen ratlos zurücklässt. Es will ihm einfach nicht einleuchten, wie ein Kernphysiker vom Format eines Lord Rutherford ein so erstrebenswertes Ziel wie die Freisetzung der Atomenergie von vornherein als unerreichbar einstuft. Zwei Wochen lang macht sich Szilard mit dem Problem vertraut. Mit Hilfe seiner bewährten Meditationstechnik – ausgiebige Wannenbäder gefolgt von flotten Spaziergängen durch das grüne Bloomsbury-Viertel – denkt er darüber nach, wie er Rutherfords forsche Behauptung widerlegen kann. James Chadwicks Entdeckung des Neutron liegt eineinhalb Jahre zurück. Und selbstverständlich ist sich auch Szilard der Tatsache bewusst, dass das elektrisch neutrale Teilchen im Prinzip das ideale Geschoss darstellt, das unbehelligt die elektrische Barriere des Atomkerns durchdringen und ihn aufbrechen könnte. Bisher hat aber noch niemand eine Methode vorgeschlagen, mit der sich die enorme Energiemenge einfangen ließe, die bei der Reaktion zwischen Neutron und Atomkern freigesetzt werden würde.
Eine Stärke Szilards ist seine geistige Unabhängigkeit und Vielseitigkeit. Als freischaffender Denker und Universalist muss Szilard keinen akademischen Verpflichtungen nachkommen, für keine Familie sorgen. Er darf waghalsig spekulieren, denn er
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