Ketzer
weiteren verstohlenen Blick zur Treppe atemlos aus.
»Natürlich.« Ich öffnete die Tür weiter, um sie einzulassen. Sie schlug sie hastig hinter sich zu und lehnte sich schwer dagegen. Ihre Wangen waren gerötet. Ich bemerkte mit Sorge, dass von ihrer üblichen Contenance nicht mehr viel übrig war; obwohl sie mit aller Macht dagegen ankämpfte, zitterten ihre Lippen, die sonst so gerne leicht zynisch lächelten, und ihre Augen glänzten, als drohe sie jeden Moment in Tränen auszubrechen.
»Verzeiht mir, Bruno«, begann sie derart leise, dass ich sie kaum verstehen konnte. »Mein Vater hat mir verboten, mit Euch zu sprechen, aber ich kann ihm in diesem Punkt nicht gehorchen – ich wüsste nicht, wem ich mich sonst anvertrauen könnte.« Sie brach ab. Ihr Atem kam in abgehackten Stößen, als sei sie gerannt oder hätte geweint. »Verzeiht mir«, wiederholte sie, dann schien sie vorwärtszutaumeln, als würde sie wie am Abend zuvor von einem Schwindelgefühl überwältigt werden. Diesmal sprang ich noch rechtzeitig vor, um sie aufzufangen, und sie sank dankbar gegen meine Schulter, als ein Schluchzen ihren schmalen Brustkorb erzittern ließ. Ich hielt sie in meinen Armen und strich über ihr Haar, während sie versuchte, ihre
Emotionen unter Kontrolle zu bekommen. Weshalb sie zu mir gekommen war, konnte ich noch nicht einmal erahnen, doch Sophia war nicht der Typ Frau, der wegen irgendeiner Bagatelle dermaßen die Fassung verlöre, also hatte sie mir wahrscheinlich etwas Ernstes zu sagen.
Sowie sie sich so weit erholt hatte, dass sie den Kopf von meiner Schulter heben konnte, lehnte sie sich zurück und sah mir mit solch furchterfüllter Eindringlichkeit in die Augen, dass es mir so vorkam, als wolle sie mir bis auf den Grund meiner Seele blicken. Ehe mir bewusst wurde, was ich da tat, folgte ich einem Impuls, beugte mich vor und küsste sie. Für einen kurzen Moment spürte ich, wie sie darauf einging, ihr warmer Körper schmiegte sich weich gegen den meinen – doch genauso plötzlich wich sie zurück, stieß meine Arme weg und starrte mich mit einem Ausdruck verwirrten Entsetzens an.
»Nein … nein, ich kann nicht … Ihr versteht nicht«, stammelte sie und ließ dabei ihre Hände so mutlos sinken, als habe sich ihre Qual verhundertfacht.
»Es tut mir leid …«, fing ich an, doch sie schüttelte heftig den Kopf.
»Nein, ich muss mich entschuldigen, Bruno … ich hätte nie … aber ich wusste wirklich nicht, an wen ich mich sonst hätte wenden können!«, brach es aus ihr heraus. Sie verkrallte die Hände ineinander und sah mich flehend an. »Ich glaube, ich schwebe in Gefahr.«
Eine eisige Hand schloss sich um mein Herz. Mit zitternden Fingern wies ich zaghaft auf den Stuhl neben dem Schreibtisch, hierauf schob ich schnell Rogers Kalender und meine Aufzeichnungen über seinen Tod unauffällig unter ein Buch.
»Ihr müsst mir alles erzählen«, ermutigte ich sie. »Was für eine Art von Gefahr meint Ihr? Hat sie mit Doktor Mercer zu tun?«
Sie zögerte, holte tief Luft und setzte zu einer Antwort an, doch genau in diesem Augenblick war erneut ein energisches Klopfen zu hören. Sophia fuhr herum, starrte voller Angst zu
meiner Kammertür und schlug eine Hand vor ihren Mund. Ich wartete mit wild klopfendem Herzen ab, was geschehen würde – womöglich hatte ihr Vater sie ins Treppenhaus gehen sehen und war ihr gefolgt. Nach einigen Sekunden wurde noch einmal geklopft.
»Doktor Bruno? Seid Ihr da?«
Es war die Stimme eines jungen Mannes, nicht die des Rektors. Trotzdem durfte Sophia nicht in meiner Kammer überrascht werden, und ich könnte schwerlich so tun, als wäre ich nicht da, da ich mich in den nächsten Minuten zum Dinner in die Hall begeben müsste.
»Einen Augenblick bitte, ich kleide mich gerade an«, rief ich, dann schob ich Sophia hinter einen der bodenlangen Fenstervorhänge. Die Situation war dermaßen absurd, dass sie ihr ein schwaches Lächeln entlockte. Ich drückte ihren Arm, und sobald von ihr nichts mehr zu sehen war, ging ich zur Tür und öffnete sie. Auf der Schwelle stand mir John Florio gegenüber, der mich neugierig ansah.
»Master Florio!« Ich zwang mich dazu, so unbefangen und heiter wie möglich zu klingen. »Was führt Euch denn zu mir?«
»Habe ich Euch gestört, Doktor Bruno?«, fragte er, dabei schielte er um mich herum, um meine Kammer zu inspizieren. »Ich kann später wiederkommen, wenn Ihr nicht allein seid – mir war, als hätte ich Stimmen
Weitere Kostenlose Bücher