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Ketzer

Ketzer

Titel: Ketzer Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stephanie Parris
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drehte ich mich nach meinen Begleitern um. Das runde weiße Gesicht des Rektors, fahl wie der Mond unter mir im Dunkel des Treppenhauses, zuckte vor Furcht zusammen, zeigte mir jedoch gleichzeitig mit einem Nicken an weiterzugehen.
    Die kleine Tür am hinteren Ende des zweiten, kleineren Turmraumes schwang gleichfalls mühelos auf. Dahinter sah ich eine schmale Wendeltreppe, die mit Müh und Not Platz für einen Mann ließ, sich zur Turmspitze hochwinden. Auf halber Höhe befand sich eine kleine bogenförmige Türöffnung, deren eisenbeschlagene Eichentür Slythurst auf der Flucht vor dem Anblick, der sich ihm dahinter geboten hatte, gleichfalls offen gelassen hatte. Der unverkennbare Geruch des Todes stieg mir in die Nase, als ich mich auf die Schwelle zubewegte. Der Rektor, der sich dicht hinter mir hielt, stieß einen leisen Schreckensschrei aus. Ich holte tief Atem, stieß die angelehnte Tür ganz auf und betrat den Tresorraum der Universität. Augenblicklich schrie ich auf und begann zu würgen bei dem Anblick, der sich mir hier bot. Der Rektor krallte eine Hand in das Rückenteil meines Wamses, während er versuchte, an mir vorbei in den Raum zu spähen. Und wir erhielten an diesem Ort die Lösung des Rätsels, was mit Doktor James Coverdale geschehen war.
    Die Stahlkammer wirkte erheblich beengter als die darunterliegende Kammer des stellvertretenden Rektors, was wohl hauptsächlich mit dem raumfüllenden erstickenden Gestank zusammenhing. Die Ausmaße der Wände waren nahezu identisch, die Holzbalkendecke allerdings war niedriger, und die beiden Fenster, von denen eines auf den Innenhof des Lincoln und das andere auf die St. Mildred’s Lane hinausging, waren kleiner und schmaler und ließen durch einen einzigen Bogen im Perpendikularstil an diesem bedeckten Tag ein wenig Licht herein. An den Wänden reihten sich schwere Holztruhen verschiedener Größen, die alle mit Wappen bemalt, mit Eisenbändern beschlagen
und mit riesigen Vorhängeschlössern gesichert waren – sie müssten sämtliche eingenommenen Gelder der Universität enthalten.
    Links vom Hoffenster erblickte ich James Coverdale:
    Seine Handgelenke waren gefesselt und über seinem Kopf an einen an der Wand befestigten eisernen Kerzenhalter gebunden worden. Bis auf sein leinenes Unterhemd war er nackt, und sein Kopf war nach vorne gesunken, sodass sein Kinn auf seiner mit getrocknetem Blut bedeckten Brust ruhte – wie es aussah, war er nicht erst vor ein paar Stunden gestorben. Doch das Bizarrste, der Grund für meinen entsetzten Aufschrei, war der Umstand, dass man, höchstwahrscheinlich aus kürzester Entfernung, mehrere Pfeile auf ihn abgeschossen hatte. Neun oder zehn ragten aus verschiedenen Teilen seines Körpers und verliehen ihm das Aussehen eines Nadelkissens – oder eines gemarterten Heiligen.
    Ich wusste sofort, was das zu bedeuten hatte, und der Rektor schien es ebenfalls zu begreifen, denn er verstärkte seinen Griff, sodass ich spüren konnte, wie seine Hand zitterte. Während er mit einem Ausdruck nackten Entsetzens den zweiten Leichnam eines Kollegen anstarrte, der innerhalb von nur zwei Tagen gefunden worden war, musterte ich ihn verstohlen. Seine Lippen bewegten sich, und zuerst dachte ich, er würde stumm beten, bis ich erkannte, dass er zu sprechen versuchte, seine Stimme ihm aber nicht gehorchte. Als es ihm endlich gelang, ein Wort hervorzustoßen, kam dasselbe heraus, das auch mir unvermittelt durch den Kopf geschossen war.
    »Sebastian. «
    »Wer ist Sebastian?«, fragte Slythurst ungeduldig. Er wartete noch immer hinter uns auf der Treppe, den Blick abgewandt, als würde es ihm zutiefst widerstreben, den Raum ein zweites Mal zu betreten.
    »Der heilige Sebastian«, erwiderte ich ruhig.
    Der Rektor nickte wie in Trance.
    »›Es wurde befohlen, ihn festzunehmen und auf das offene
Feld zu schaffen, wo seine eigenen Soldaten ihm unzählige Pfeile durch den Leib schießen sollten‹«, zitierte er heiser.
    Ich hegte keinen Zweifel daran, dass die Worte von Foxe stammten.
    »Und seht hier!« Er deutete mit einer zitternden Hand auf die Wand neben dem Fenster, auf der das mit einem in das Blut des Toten getauchten Finger gezeichnete Symbol eines Speichenrades prangte.
    »Und hier haben wir die Tatwaffe«, stellte Slythurst bestimmt fest, trat in den Raum und zeigte auf die Wand unter dem Fenster, an der ein kunstvoll geschnitzter englischer Langbogen mit grünen und roten Verzierungen neben einem dazu passenden Köcher

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