Kill Decision
Vater, eins von ihrer Mutter, eins von ihren beiden älteren Brüdern, wie sie nebeneinanderstanden und sich um die Schultern gefasst hielten. Was hatte sie in den ganzen Jahren in irgendwelchen Forschungscamps alles verpasst? Da war auch ein Foto von ihr beim Fallschirmspringen. Mit Sprungbrille und hochgereckten Daumen im freien Fall irgendwo über Virginia. Ihr hundertster Sprung. Das Foto hatte ihr Sprungpartner gemacht, Brian Kirkland. Sie war nicht mehr mit ihm zusammen. Fernbeziehungen waren immer schwierig. Er war ein toller Mann. Inzwischen verheiratet und Vater eines Kindes.
Sollte sie eine Stelle in der Lehre annehmen? Die Feldforschung aufgeben? Sie dachte an Adwele und seinen Vater Babu, der Ranger im Amani-Naturschutzgebiet gewesen war. Wilderer hatten ihn getötet. Wie würde Adwele ohne Vater zurechtkommen? Er war so ein gescheiter Junge. Aber stimmte das, was Haloren sagte? Kümmerte sich McKinney aus egoistischen Motiven um Adwele? War es der Versuch, eine Leere zu füllen? Das war das Schlimmste an Haloren: Sosehr er einen auch auf die Palme bringen konnte – er war beunruhigend klarsichtig.
Ein seltsames, unbekanntes Surren drang in ihre Gedanken. McKinney blickte zum Fenstergitter am anderen Ende ihres Zimmerchens hinauf.
Aber das Surren war schon verschwunden.
Dschungelgeräusche. Sie überlegte, welche großen Insekten es gab, die nachts flogen. Ein Goliath albosignatus ? Goliathkäfer konnten über zehn Zentimeter Länge erreichen. Aber sie hatte auf der Station noch nie einen gesehen. Einen zu fangen wäre toll.
Da war das Surren wieder – diesmal kam es vom Fenster zu ihrer Linken.
McKinney drehte sich auf die linke Seite und blickte zu dem Fenstergitter nahe der Decke. Da war etwas gleich draußen vor dem Gitter, ein Schwirren, kaum hörbar vor dem Hintergrund der Dschungelgeräusche. Jetzt wieder weg.
Das seltsame Surren bewegte sich in Richtung des Fensters über ihrem Bett.
Interessant. Vielleicht etwas Seltenes? McKinney setzte sich auf und griff nach der LED-Taschenlampe neben der Trillerpfeife. Sie krabbelte ans Fußende des Betts und schaute konzentriert zum Fenster.
Eine Fledermaus mit Sicherheit nicht. Sie ging ihr enzyklopädisches Wissen über lokale Arten durch, konnte das Geräusch aber nicht einordnen. Ein stetes, leises Surren.
Dann leuchtete plötzlich etwas im Licht einer der Sicherheitsleuchten auf – ein glänzender Rückenschild, etwa zwölf Zentimeter im Durchmesser, der langsam über den Fensterrahmen emporstieg. Methodisch. Wie von bewusster Intelligenz gesteuert.
«Was zum Teufel …» Sie schaltete die LED-Taschenlampe ein. Doch der Strahl wurde von dem Metallgitter reflektiert, sodass sie weniger sah als ohne Lampe. Das Ding surrte schnell davon.
«Verdammt!» Sie knipste die Taschenlampe aus, aber ihre Augen mussten sich erst wieder auf das Dunkel einstellen. «Verdammter Mist …» McKinney zog Turnschuhe an, stand auf und überlegte, was sie jetzt tun sollte. Inzwischen hellwach, stand sie einfach nur da und horchte.
Was sie dann hörte, ließ sie vor Schreck erstarren: eine leise Jungenstimme, direkt vor ihrer Hütte. «Hilfe, Miss. Hilfe!»
Eine vertraute Stimme.
McKinney fühlte Adrenalin durch ihren Körper schießen. Sie rief: «Adwele?» Griff sich die Trillerpfeife von dem Case und streifte sich die Kette über den Kopf.
Diesmal war die Stimme unverkennbar. «Hilfe, Miss!»
Ohne nachzudenken, entriegelte McKinney ihre Tür und rannte hinaus auf den von blühenden Bougainvilleen gesäumten Schotterweg, der sich im Mondlicht dunkelgrau dahinzog. Sie knipste die Taschenlampe an und suchte das Dunkel ab. «Adwele! Was ist los? Wo bist du?»
Die Stimme kam von hinter ihrer Hütte. «Hilfe, Miss!»
McKinney rannte zwischen ihrer Hütte und der Nachbarhütte hindurch und rief: «Adwele? Wo bist du? Was ist denn?»
Aber die Stimme des Jungen entfernte sich jetzt, in den Dschungel hinein. «Miss, Hilfe! Hilfe!»
McKinney rannte der Stimme nach, versuchte die Trillerpfeife an den Mund zu setzen, während ihr dichtes Unterholz ins Gesicht peitschte. Ehe sie einen Alarmpfiff abgeben konnte, krachte sie mit dem Schienbein gegen etwas, das quer über dem Pfad lag. Sie schlug hin, hielt aber die Taschenlampe fest.
Die Stimme war jetzt direkt neben ihr. Über ihr. «Hilfe, Miss …»
«Adwele!» McKinney rollte sich auf die Seite und leuchtete in den nächststehenden Baum hinauf. Dort auf einem Ast saß ein großer Rabe, die Augen weiß von
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