Killerinstinkt: Serienmördern auf der Spur (German Edition)
zugemacht und den Patienten alleine gelassen. Ich bin also nicht wie ein aufgeschrecktes Huhn rumgelaufen und habe den Doktor geholt. Ich war dann halt entweder länger da drin und habe demjenigen die Hand gehalten und noch ein bisschen mit ihm gesprochen, wenn es ging, oder, wenn er oder sie wollte, habe ich gefragt, ob ich einen Geistlichen verständigen soll.«
Thomas Bracht stutzt einen Augenblick und senkt den Blick. Er schweigt. Ich lasse ihn gewähren.
»Die meisten wollten dann doch einen Geistlichen dabeihaben, obwohl sie das vorher abgelehnt hatten«, berichtet er mir mit leiser werdender Stimme. »Dann bin ich halt losgegangen und habe einen Pfarrer angerufen. Die kamen auch immer. Die waren dankbar, wenn sie angerufen wurden, und immer sehr nett. Das fand ich so in Ordnung.
Dann war da aber auch noch das andere Szenario, bei dem der Doktor ins Zimmer gestürmt kam und Rettungsmaßnahmen eingeleitet wurden. Aber es war eigentlich allen klar, dass das nicht zu schaffen war. Ich habe es deshalb ein bisschen anders gehandhabt. Ich habe in solchen Fällen nichts unternommen, habe aber auch keine lebensverkürzenden Dinge gemacht. Und so hatte ich bei meinen Kollegen ziemlich schnell den Ruf weg: Geh mal da rein, der ist jetzt über, den brauchen wir nicht mehr.«
»Sie haben dich den ›Liquidator‹ genannt …«
Kopfnicken.
»Hast du diese Rolle von dir aus angenommen, oder haben dich die Kollegen dazu animiert?«
»Wahrscheinlich stimmt beides. In mir haben sie wohl einen Dummen gefunden, der eben zu den Sterbenden ins Zimmer gegangen ist und pflegerische Tätigkeiten durchgeführt hat. Aber für mich hört sich das auch so ein bisschen nach Ausrede an, als wollte ich mich davon freisprechen.«
»Kann es sein, dass du in dieser Zeit den Respekt vor dem Sterben anderer Menschen verloren hast?«
»Nein.« Thomas Bracht schaut mich unverwandt an. »Den Respekt vor dem Sterben habe ich nie verloren. Niemals. Generell nie.«
»Gab es da vielleicht eine Entwicklung, die du durchgemacht hast?«
»Das war hinterher schon vermischt: das eigene Sterben und das Sterben anderer Menschen, ja. Irgendwie bin ich mit jedem Menschen, der gestorben ist, ein Stückchen mitgestorben.«
»Meinst du jetzt die natürlichen Todesfälle oder die Tötungen?«
»Das macht keinen Unterschied.«
Mittlerweile ist eine sehr intime Gesprächsatmosphäre entstanden. Wir sitzen uns gegenüber, kaum einen Meter voneinander entfernt. Es scheint nur uns beide und dieses Gespräch zu geben, jedenfalls empfinde ich es so. Auch spüre ich deutlich Thomas Brachts Bereitschaft, heute noch einen Schritt weiter zu gehen als bei den vormaligen Gesprächen. Deshalb komme ich jetzt auf seine seelische Befindlichkeit zu sprechen.
»Thomas, ich möchte dir ein Bild anbieten: Stell dir vor, deine Seele ist ein Berg. Und mit jedem Patienten, der stirbt, trägst du ein Stück von diesem Berg ab. Du fühlst also immer weniger. Liege ich da richtig? Bist du in dieser Phase im Krankenhaus vielleicht auch innerlich verroht?«
»Nein, verroht nicht.«
»Dann drücke ich es anders aus: nicht mehr so empfänglich gewesen für die Leiden anderer Menschen?«
»Nein, empfänglich war ich immer. Gerade weil ich besonders empfänglich für die Leiden dieser Menschen war, wurde der Schritt, selber aktiv zu werden, immer kleiner. Oder anders gesagt, die Schwelle, die man dazu überschreiten muss, war vielleicht zu niedrig.«
Die Antwort ist mir zu unkonkret, zu abstrakt, nicht überzeugend.
»Das ist mir jetzt noch ein bisschen dünn. Du hast eben gerade selbst gesagt, manches hört sich für dich an wie eine Ausrede. Und wenn ich dich jetzt so charakterisiere zu dem Zeitpunkt, als es langsam losging mit den Tötungen, dann warst du jemand, der jede Menge Frustration einzustecken hatte. Du musstest dir die Sache mit den eigenen Kindern aus dem Kopf schlagen, dann war da noch der Stress am Arbeitsplatz. Da gibt es aber noch viele andere Ärzte, Krankenschwestern oder Altenpfleger, die vergleichbar belastende und frustrierende Situationen erlebt haben, die damit aber ganz anders umgegangen sind.«
»Ja, das ist richtig«, räumt er ein. »Ich wollte damals schon über meine Befindlichkeiten reden, das hatte ich mir fest vorgenommen. Wir saßen auch manchmal unter Kollegen zusammen, und ich wollte über meine Probleme sprechen. Dann kam aber direkt ein anderer Kollege, hat mir das Wort abgeschnitten und von seinen Problemen berichtet, meinetwegen über
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