Killerinstinkt: Serienmördern auf der Spur (German Edition)
Besucherraum. Dort soll das Interview stattfinden. In etwa einer halben Stunde, wenn die Technik aufgebaut ist, kann es losgehen.
Die Vorbereitungen für den Dreh zwingen mich zur Untätigkeit. Und zum Nachdenken. Ich führe mir noch einmal vor Augen, wie ich das Gespräch beginnen möchte. Zunächst will ich dafür sorgen, Joachim Mattock Mikrophon und Kamera vergessen zu lassen. Das wird schwer genug. Obendrein muss ich einen Weg finden, ihn unter diesen verschärften Bedingungen zu intimen Aussagen zu bewegen. Und ich muss peinlichst darum bemüht sein, nicht den Faden zu verlieren und das Gespräch so zu führen, dass keine Brüche oder Irritationen entstehen. Der Druck ist immens.
Während ich noch sinniere, wird Joachim Mattock hereingeführt. Die Aufgeregtheit steht ihm ins Gesicht geschrieben. Ich versuche ihn aufzulockern, mache Scherze. Er lacht dankbar. Mir ist ganz anders zumute. Ein wenig Ablenkung bringt die Verkabelung durch den Tonmeister, der Mikrophone an unsere Hemden steckt. Danach setzen wir uns. Blickkontakt. Joachim Mattock lächelt verlegen. Ich erkläre ihm, wie der weitere Ablauf sein wird, und weise ihn darauf hin, dass es ihm freisteht, Fragen auch unbeantwortet zu lassen. Er nickt.
Barbara Eder gibt mir ein Zeichen: Es kann losgehen. Mein Herz beginnt zu hämmern. Niemals zuvor war ich vor einem Interview derart aufgeregt. Ein letzter kurzer Blick auf meine Notizen, den Fragenkatalog. Nun gibt es kein Zurück mehr. »Bereit?«, fragt die Regisseurin. Kopfnicken des Teams. »Achtung, wir drehen. Ton ab. Kamera ab – läuft. Und bitte …«
Mein Plan ist: Ich werde zur Einleitung ein wenig über mich selbst sprechen und erst dann eine Frage stellen. Joachim Mattock soll Gelegenheit haben, sich mit den äußeren Umständen vertraut zu machen. Eine sofortige Frage würde ihn möglicherweise überfordern, schlimmstenfalls blockieren.
Also erzähle ich bewusst ausführlich von meiner frühesten Kindheitserinnerung, wie ich als Anderthalbjähriger erstmals ohne fremde Hilfe eine Treppe herunterrutsche, auf dem Po, ganz behutsam, Stufe für Stufe. Und wie ich daraufhin stolz wie Oskar am Rockzipfel meiner Mutter zupfe, die in der Küche beschäftigt ist und sich furchtbar erschreckt – eigentlich hätte ich doch eine Etage höher im Laufstall sein sollen.
»Was ist Ihre erste Kindheitserinnerung?«
Joachim Mattock antwortet nicht, sondern pfeift durch seine immer noch lückenhaften Vorderzähne und grübelt, schweigt. Sofort wird mir klar, dass ich den falschen Einstieg gewählt habe. Gleich zu Beginn in eine Sackgasse zu geraten, ist übel. Ich könnte eine neue Frage stellen, möchte aber mein Konzept nicht so früh über den Haufen werfen. Deshalb lasse ich ihn weiter nachdenken.
»Welche war meine? Tja, da hab ich kaum eine Erinnerung.«
»Sie haben keine Vorstellung, wann Sie als Person angefangen haben zu existieren?«
»Ich hatte zwei Geschwister, die sich um mich gekümmert haben …«
Damit ist meine Frage zwar nicht beantwortet, doch ich bin froh, dass wir jetzt trotzdem einen Einstieg gefunden haben. Joachim Mattock erzählt von den leidvollen Erfahrungen mit seinen Eltern und den häufigen Bestrafungsritualen. Ich habe mir am Abend zuvor das Gesprächsprotokoll unseres ersten Interviews aus dem Jahr 1999 durchgelesen – inhaltlich ergeben sich zu seinen jetzigen Ausführungen keine bedeutsamen Abweichungen. Das ist ein gutes Zeichen: Er lässt nichts aus, er übertreibt nicht, er bleibt bei der Wahrheit.
»Okay, verlassen wir das Elternhaus. Wie ist denn hier in der Klinik Ihr Tagesablauf? Sie wachen morgens auf, was passiert dann?«
»Rauchen. Kaffee trinken. Dann duschen und PC anschmeißen, ein bisschen spielen. Später Theatertexte lernen …«
»Theatertexte?«
»Wir haben hier eine Theatergruppe, da mache ich mit.«
»Und wie geht es nach dem Auswendiglernen weiter?«
»Gartenarbeit, Karnickel und Fische füttern. Das geht bis 19 Uhr. Um 21 Uhr ist Einschluss. Das ist der Tagesablauf.«
Mit meiner nächsten Frage möchte ich herausbekommen, ob Joachim Mattock im Laufe der Therapie tatsächlich eine Veränderung durchgemacht hat. Denn auf diese Frage hat er vor elf Jahren nicht geantwortet.
»Haben Sie damals ein gerechtes Urteil bekommen?«
»Ja.«
»Warum war das Urteil gerecht?«
»Ja, ich hab Leben genommen.«
»Sie könnten doch für sich reklamieren: Ich bin auch Opfer gewesen, ich hatte eine üble Kindheit, wurde ausgegrenzt und geschlagen. Ich
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