Killing time
hatte.
»Warum hat er vorher nichts von den Briefen gesagt?«, fragte Jim.
»Er hatte sie vergessen, weil er sie nicht für wichtig hielt.«
»Ich kann mir nicht vorstellen, dass ein Ehemann so etwas vergisst«, sagte Charlie. »Vor allem nicht die Zeichnungen.«
»Welche Zeichnungen?«, fragte Bernie. »Kyle hat nichts von Zeichnungen gesagt.«
»Dann lügt er, oder Stephanie hat ihrem Mann nicht alle Geschenke gezeigt.« Jim zeigte auf den dünnen Stapel Blätter, die Charlie in der Hand hielt. Er trug ebenfalls Einweghandschuhe.
»Lassen Sie mich mal sehen.« Bernie streckte die Hand aus, und Charlie gab ihr die Blätter.
Auf dem ersten war eine Skizze von Stephanie, die mit Kohlestift gezeichnet war. Nur ihr Gesicht und die Andeutung einer nackten Schulter. Die Skizze war erstaunlich genau, folglich musste der Zeichner talentiert sein. Unter der Zeichnung fanden sich mehrere Fotos von Stephanie, die offensichtlich aus größerer Entfernung aufgenommen worden waren, und ihrem Gesichtsausdruck nach zu urteilen, war ihr nicht bewusst gewesen, dass sie fotografiert wurde. Ein Foto zeigte sie auf ihrer Vorderveranda, ein anderes als sie gerade mit einem vollen Einkaufswagen aus dem Supermarkt kam. Insgesamt waren es sechs Aufnahmen, die an unterschiedlichen Orten und augenscheinlich auch an unterschiedlichen Tagen gemacht worden waren.
»Er hat sie beobachtet«, sagte Bernie.
»Ja«, bestätigte Jim. »Sehen Sie weiter. Es kommt noch schlimmer.«
Sie gab Charlie die erste Zeichnung und die Fotos zurück und sah sich die übrigen etwa ein Dutzend Skizzen an. Bernie schrak zurück, als ihr Blick auf die erste fiel. Es war eine Tintenzeichnung von Stephanie, auf der sie halb entkleidet war. Ihre eine Brust war entblößt und die Spitze aufgerichtet. Sie hielt eine Hand verführerisch zwischen den Schenkeln und den rechten Zeigefinger zwischen ihre Lippen, die leicht geöffnet waren.
Gütiger Gott, hatte Stephanie für dieses Bild Modell gestanden beziehungsweise gelegen, oder war es aus der Erinnerung gezeichnet? »Wir müssen auf jeden Fall den früheren Freund befragen.«
Bernie sah sich die nächste Zeichnung an. Auf dieser war Stephanie vollkommen nackt bis auf eine Perlenkette, die sie um den Hals trug. Und der Ausdruck auf ihrem Gesicht war regelrecht beängstigend. Sie sah aus wie eine Frau, die gerade einen Orgasmus hatte.
»Mein Gott.«
»Amen«, sagte Charlie.
Erst als Charlie sprach, wurde Bernie klar, dass sie die zwei Worte nicht nur gedacht hatte.
Die Zeichnungen wurden immer drastischer, und die letzten vier schließlich zeigten Stephanie in Sadomasoposen – gefesselt, geknebelt, in Ketten und ihr Körper übersät von runden Wundmalen und Bissabdrücken.
Bernie spürte, wie ihr eine brennende Magensäure die Speiseröhre hinaufstieg. Sie unterdrückte ein Würgen und schluckte energisch. Wag es ja nicht, dich zu übergeben. Keinem der beiden Männer ist schlecht geworden.
»Ziemlich heftiger Stoff«, sagte Jim.
»Widerlich.« Bernie brachte nur mit Mühe dieses eine Wort heraus und musste sich mehrmals räuspern.
»Die Frage ist, hat der Künstler für diese Bilder auf seine Phantasie zurückgegriffen, oder stand Stephanie ihm kürzlich oder vor längerer Zeit dafür Modell?« Charlie blickte von Bernie zu Jim.
»Falls Sie meine Meinung hören wollen, würde ich sagen, dass er seine kranke Phantasie benutzte«, sagte Jim.
Bernie nickte. »Sofern Stephanie nicht ein Doppelleben führte, von dem niemand etwas wusste, würde ich Jim zustimmen.«
»Da sind noch ein paar andere Dinge.« Charlie zeigte auf die offene Schachtel auf der Zedernkommode. »Kleine Geschenke: eine Perlenkette, eine Flasche Parfum, ein goldenes Armband, ein rosa Lippenstift und passender Nagellack.«
»Geschenke, die ein Mann seiner Freundin macht?«, überlegte Bernie laut. Es waren zwei Schmuckstücke und drei Kosmetikartikel. »Warum solche Sachen?«
»Gute Frage.« Jim sah sie an. »Waren es Dinge, von denen er wusste, dass sie ihr gefielen? Oder wollte er sehen, wie sie sie benutzt?«
»Ich bringe gleich alles in unser Labor«, sagte Charlie. »Und während ich damit beschäftigt bin, könnten Sie beide ja schon mal den Exfreund befragen. Außerdem sollten Sie sich von der Familie eine Liste über jeden Mann in Stephanies Leben außer dem Vater und dem Ehemann geben lassen.«
»Das kann eine lange Liste werden«, erwiderte Bernie. »Sie arbeitete tagsüber bei McDonald’s und ging abends aufs College.
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