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Kim Novak badete nie im See von Genezareth

Kim Novak badete nie im See von Genezareth

Titel: Kim Novak badete nie im See von Genezareth Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Håkan Nesser
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Nacht zurück. Über Ewa Kaludis verlor er kein Wort, und wir fragten natürlich auch nie nach. Wir schwiegen und wahrten auf Gentleman-Art das Gesicht. Wie Arsène Lupin. Oder Scarlet Pimpernel.
    Oder Oberst Darkin.
    Wenn man sonst nichts werden kann, dann kann man zumindest zusehen, dass man ein Gentleman wird, das war eine von Edmunds Redewendungen aus dem Angermanland, und darin war ich mit ihm auf Punkt und Komma einig.
    Es war der vierte Juli, als sie das nächste Mal in Genezareth auftauchte. Ich kann mich noch so gut an das Datum erinnern, weil Edmund und ich eine ganze Weile über George Washington und die amerikanische Unabhängigkeitserklärung geredet hatten. Und über Kennedy und seine Jackie. Es war kurz nach zehn Uhr abends, wir hatten gerade einen Kakao getrunken und Zwieback mit Butter gegessen, wie wir es immer vor dem Schlafengehen taten. Henry saß noch draußen und schrieb, es war ein sehr heller Abend, und er rauchte fieberhaft, um die Mücken zu vertreiben.
    Ich nehme an, wir hörten alle drei gleichzeitig das Moped. Edmund und ich sahen einander über den Küchentisch hinweg an, und die Schreibmaschine verstummte. Es verging eine halbe Minute, dann hatte sie den Parkplatz erreicht. Sie ließ den Motor einen Moment lang leer laufen, dann stellte sie ihn
    ab.
    »Hrrm«, sagte Edmund. »Ich glaube, ich muss mal pissen.«
    »Wenn du meinst«, sagte ich.
    Zuerst erkannte ich sie nicht wieder. Eine hohle Sekunde lang konnte ich mir nicht vorstellen, dass die Frau, die hinter dem Fliedergestrüpp hervorkam, die paar Schritte übers Gras lief und sich dann meinem Bruder in die Arme warf, wirklich Ewa Kaludis war.
    Ewa Kaludis/Kim Novak auf dem roten Puch. Ewa Kaludis mit den funkelnden Augen und den reifen, wippenden Brüsten. Mit den schwarzen Leggins und dem roten Band im Haar und dem offenen Swansonhemd, das im Wind flatterte.
    Aber sie war es. Das Swansonhemd trug sie auch heute, ebenso die Leggins. Oder jedenfalls etwas Ähnliches. Aber kein rotes Haarband. Keine funkelnden Augen und kein breites Lächeln. Nur ein Auge, genau betrachtet. Das andere, das rechte, sah aus wie zwei Pflaumen. Oder eigentlich, als hätte jemand dort, wo es sitzen sollte, zwei Pflaumen zertreten. Die Lippen waren auch nicht die üblichen. Die obere sah aus, als wäre sie breitgedrückt worden, und reichte jetzt bis zur Nase. Die Unterlippe war dick angeschwollen und hatte einen breiten dunklen Strich darin. Auf einer Wange war ein großer bläulicher Fleck zu sehen. Sie sah insgesamt einfach jämmerlich aus, und es dauerte noch weitere hohle Sekunden, bevor ich begriff, was vorgefallen sein musste. Dass jemand sie so zugerichtet haben musste. Dass jemand Ewa Kaludis seine Fäuste ins Gesicht gepflanzt hatte. Dass jemand sie. dass jemand.
    Ich glaube, mir wurde schwarz vor Augen, als mir das klar wurde. Ich schloss die Augen und hörte Edmund neben mir einen Fluch ausstoßen. Als ich wieder aufschaute, stand Ewa Kaludis fest in den Armen meines Bruders, er umfasste sie mit beiden Armen, strich ihr über den Rücken, und man konnte sehen, dass sie weinte. Henry stand mit gebeugtem Kopf da und murmelte etwas direkt in ihre Haare, und ihre Schultern hoben und senkten sich im Takt ihres Schluchzens.
    Eine Zeit lang geschah sonst nichts, außer dass Edmund einen weiteren zittrigen Fluch ausstieß. Dann half Henry Ewa, sich an den Tisch zu setzen, dort, wo er gesessen und geschrieben hatte, und wandte sich danach zu uns.
    »Hört mal«, sagte er, und sein Blick fuhr hastig zwischen uns hin und her. »Mir ist scheißegal, was ihr macht, wenn ihr uns jetzt nur in Ruhe lasst. Geht ins Bett oder rudert auf den See hinaus oder was ihr auch wollt. Aber Ewa und ich müssen jetzt eine Weile allein sein. Habt ihr verstanden?«
    Ich nickte. Edmund nickte.
    »Gut«, sagte Henry. »Verschwindet.«
    Ich warf Edmund einen Blick zu. Dann gingen wir pissen. Und dann gingen wir ins Bett.
    ***
    Am nächsten Morgen war sie immer noch da.
    Edmund und ich hatten bis tief in die Nacht miteinander diskutiert, und deshalb schliefen wir beide bis weit in den Vormittag hinein. Als ich die Treppe hinunterwankte, um aufs Plumpsklo zu kommen, bevor es zu spät war, saß Ewa auf einem der Liegestühle unter der Esche, Henrys abgetragenen Frotteemorgenmantel um sich gewickelt. Es sah fast so aus, als würde sie frieren, und als sie die Hand zu einem zögernden Gruß hob, bekam ich einen Kloß im Hals, den ich erst nach einigen kräftigen Schlucken wieder

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