Kind der Hölle
und nicht weit voneinander entfernt, wenn diese telepathische Gedankenübertragung zwischen ihnen stattfand. Allerdings hatte sie gelesen, daß die übersinnliche Kommunikation bei manchen Zwillingen sogar über riesige Entfernungen hinweg zustande kam: wenn der eine in irgendwelchen Schwierigkeiten war – krank, verletzt, bedroht –, so spürte es der andere. Konnte das auch im Schlaf klappen?
Kim sprang aus dem Bett, schlüpfte in den alten Baumwollbademantel, der Jared zu klein geworden war, und lauschte an der Tür, ob ihr Vater irgendwo im Haus herumrumorte. Wenn er noch keinen Blackout hatte, würde er sie vielleicht anbrüllen, oder aber er würde sich mit ihr unterhalten wollen, was immer darauf hinauslief, daß sie zuhören mußte, wie er sich endlos über die Ungerechtigkeiten dieser Welt ausließ.
Daß es im Leben nicht gerecht zuging, war für Kim nichts Neues. Jared und sie hatten diese Erfahrung längst selbst gemacht!
Endlich öffnete sie die Tür einen Spalt breit und spähte vorsichtig hinaus. Irgendwo im Erdgeschoß brannte noch Licht, so daß sie über die Halle hinweg Jareds Zimmer auf der gegenüberliegenden Seite der Galerie sehen konnte. Die Tür war geschlossen, und durch den Spalt zwischen Tür und Boden fiel kein Lichtschein.
Kim lauschte wieder, und als von unten keine Geräusche zu hören waren, schlich sie auf leisen Sohlen zum Zimmer ihres Bruders. »Jared?« flüsterte sie. »Jared!«
Sie hörte ein leises Jaulen.
»Scout?«
Aber Scout schlief doch immer am Fußende von Jareds Bett, so fest, daß morgens nicht der Hund sein Herrchen weckte, sondern umgekehrt. Leise öffnete sie die Tür und warf einen Blick ins Zimmer. Sofort schob Scout seinen Kopf in ihre Hand und wollte gestreichelt werden. »Was ist denn los, alter Junge?« Sie stieß die Tür weiter auf und ging in die Hocke, um dem Hund den Hals zu kraulen und die Schultern zu massieren, was er besonders liebte. Diesmal riß er sich jedoch nach wenigen Sekunden los, rannte zum offenen Fenster, stützte sich mit einer Vorderpfote auf das Sims und kratzte mit der anderen am Fliegengitter. »O nein«, murmelte Kim. »So ist Muffin …«
Muffin!
Vielleicht war das des Rätsels Lösung. Vielleicht hatte gar nicht Jared nach ihr gerufen, sondern sie hatte gespürt, daß ihre Katze zurückgekommen war und nicht ins Haus gelangen konnte.
Sie trat ans Fenster und blickte in die Nacht hinaus. »Muffin?« lockte sie leise. »Komm, meine Süße! Kss, kss, kss!«
»Kim?«
Erschrocken wirbelte Kim herum. Jared hatte sich im Bett aufgesetzt. »Herrgott, Kim, was machst du in meinem Zimmer?« knurrte er. »Wie spät ist es?«
»Halb vier«, antwortete sie. »Irgendwas hat mich geweckt. Ich habe mir Sorgen um dich gemacht und …«
»Ach ja?« fiel Jared ihr barsch ins Wort. »Und weil du dir Sorgen um mich machst, plärrst du hier nach deiner verdammten Katze herum und reißt mich aus dem Schlaf!«
Kims Unterkiefer klappte herunter. In diesem Ton hatte Jared noch nie mit ihr gesprochen – nie! »Ich habe mir wirklich Sorgen um dich gemacht«, protestierte sie, »aber als Scout dann zum Fenster lief, dachte ich …«
Jared ließ sie wieder nicht ausreden. »Tu mir einen Gefallen und geh in dein Bett zurück!«
Nun wurde auch Kim ärgerlich. »Entschul-di-gung!« Sie dehnte demonstrativ jede Silbe. »Sollte ich mir wieder mal Sorgen um dich machen, drehe ich mich einfach auf die andere Seite und schlafe seelenruhig weiter.«
»Wunderbar!« Jared ließ seinen Kopf aufs Kissen fallen und kehrte seiner Schwester den Rücken zu. »Und jetzt laß mich bitte allein, okay?«
Wie du willst, dachte Kim, drehte sich auf der Schwelle aber doch noch einmal um. »Jared, bist du ganz sicher, daß alles in Ordnung ist?«
Er stieß einen übertriebenen Seufzer aus. »Soll ich dir vielleicht ein medizinisches Gutachten vorlegen? Mach endlich die Tür hinter dir zu und laß mich in Ruhe!«
Kim warf die Tür so laut ins Schloß, daß er zusammenzuckte.
»Du lieber Himmel!« beschwerte er sich bei Scout, der neben seinem Bett saß und ihn mit einer Pfote anstupste. »Mich trifft doch wirklich keine Schuld.« Doch als er wieder einzuschlafen versuchte, fielen ihm Bruchstücke eines Traums ein – eines Alptraums, bei dem er durch lange Korridore gerannt war, auf der Flucht vor Schwester Clarence, Vater MacNeill und einem großen Schwarzen, der ihm irgendwie bekannt vorkam, an dessen Namen er sich aber nicht erinnern konnte.
Aber es war nicht
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