Kind des Bösen: Psychothriller (German Edition)
das Baby.«
»Das Baby hat er, ja. Vielleicht jedenfalls; es steht noch auf Messers Schneide. Aber sie nicht. Er hat sie nicht mehr, und sie hat das Baby nie gesehen, das sie immer haben wollte.«
Rachel nickte. Sie strich sich mit den Händen über den Bauch, unbewusst unser ungeborenes Kind schützend. Vielleicht versuchte sie sich vorzustellen, was Marie Wilkinson durchgemacht hatte oder wie es für mich oder unser Kind wäre, wenn ihr so etwas passieren würde. Vielleicht, weil sie es spürte, wie wenig ich dieses Kind wollte. Wenigstens glaubte ich, dass sie das dachte.
»Was dort passiert ist«, sagte sie, »konnte doch niemand ahnen.«
»Kann das überhaupt jemand?«
»Ja. Jeder. Vielleicht nicht so, dass man es verhindern könnte. Aber im Nachhinein ergibt es immer einen Sinn. Es gibt immer einen Grund.«
»Bist du dir da wirklich so sicher?«
»Absolut. Ein Mord ist etwas anderes, als von einem Laster überfahren zu werden oder einen Herzinfarkt zu erleiden. Keine zufällige Naturkatastrophe. Wenn Menschen umgebracht werden, geschieht das aus einem bestimmten Grund, und wenn er noch so banal ist. Zu lange den Falschen angesehen. Mit jemandem geschlafen, mit dem man nicht hätte schlafen sollen. Jemanden wütend gemacht. Nichts davon ist richtig. Aber es ergibt einen bestimmten Sinn.«
Rachel antwortete nicht.
»Aber das, was Marie Wilkinson passiert ist, ergibt eben keinen Sinn. Wir sitzen da, ihr Mann fragt mich, warum, und ich kann es ihm nicht sagen. Ich kann ihm, verdammt noch mal, überhaupt nichts sagen. Und so ist das bei allen. Alle ohne irgendeinen Grund ermordet. Jedenfalls nicht, dass ich es erklären könnte.«
»Ohne irgendeinen Grund?«
»Sie wurden nicht ausgeraubt. Nicht sexuell missbraucht. Und eine Verbindung zwischen ihnen besteht auch nicht. Nicht mal Vergnügen scheint der Scheißkerl daran zu haben.«
»Aus irgendeinem Grund muss er es doch aber tun.«
»Muss er wohl. Es wird einen Grund geben. Wir erkennen ihn nur noch nicht. Wenn wir ihn beim Wort nehmen, dann probiert er etwas aus, um uns zu testen. Diese Menschen bedeuten ihm wirklich nichts. Sie sind ihm absolut gleichgültig.«
»Ich verstehe das nicht.«
»Willst du es verstehen?«
»Ja, erklär es mir bitte.«
Also tat ich es. Die ganze Zeit hörte sie aufmerksam zu, ohne ihre Hände auch nur einmal von ihrem Bauch zu nehmen. Als ich fertig war, strich sie sanft über die Wölbung.
»Du glaubst also, dass er sich die schwangere Frau gezielt ausgesucht hat?«
»Ja.« Und ich dachte, sagte es aber nicht: Ja, und das bedeutet, dass es ganz leicht vielleicht auch dich hätte treffen können. »Die Opfer bedeuten ihm nichts, stehen aber für etwas. Er hat ein Motiv. Aber eines, das sich von denen unterscheidet, die ich normalerweise kenne. Es ist ein …« Ich suchte nach dem richtigen Wort, das es beschreiben konnte. »Es ist ein Verbrechen aus dem Nichts.«
»Wie bitte?«
»Ein Verbrechen aus dem Nichts.«
Sie sah mich verständnislos an.
»Egal«, sagte ich. »Es ist einfach … böse. «
»Ich glaube nicht an das Böse.«
»Ich auch nicht. Jedenfalls bisher nicht. Aber vielleicht fange ich jetzt damit an.«
»Ich nicht, ich bin Wissenschaftlerin.«
»Warst du, ja.«
»Und werde es wieder sein.« Ihre Hände hielten inne. »Du willst es nicht, hab ich recht? Das Baby? Du musst nicht antworten. Ich weiß, dass du es nicht willst.«
Ich sah Rachel an. Sie wandte ihren Blick ab, wartete.
»Ich weiß es nicht«, sagte ich.
Und damit hatten wir die Grenze dessen erreicht, was ich ihr nicht sagen konnte. Meine Worte schlingerten am Abgrund entlang, ohne hinabzustürzen, jedenfalls nicht tief genug, um bei der Wahrheit aufzuschlagen.
»Ich mache mir Sorgen«, sagte ich. »Sorgen um unser Kind.«
»Wie meinst du das?«
»Darüber, dass ich es nicht beschützen kann.«
»Ach.« Sie schüttelte den Kopf. Was, das ist alles? »Weißt du, das geht mir den ganzen Tag durch den Kopf. Mehr als alles andere. Ich glaube, das geht jedem so.«
»Kann schon sein.«
»Aber ich bin sicher, dass wir es schaffen, es zu beschützen. Schließlich wachsen die meisten Kinder behütet auf. Selbst bei schlechteren Eltern, als wir es sein werden.«
Ich wollte etwas entgegnen, aber sie ließ es nicht zu.
»Als du es sein wirst.«
»Aber ich kann es nicht beschützen«, sagte ich. »Niemand kann das. Es ist unmöglich. Es gibt keine Garantie.«
»Natürlich nicht. Die hat es noch nie gegeben. Aber die Chancen stehen gut.
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