Kind des Bösen: Psychothriller (German Edition)
sich die Situation sogar noch verschlimmern könnte, wenn wir tätig werden. Verstehen Sie? Er könnte sich an ihr rächen.«
Lewtschenko schüttelte den Kopf.
»Bitte. Sie müssen sie beschützen. Bitte. Sie müssen.«
Lange herrschte Schweigen, während Hicks ihn ansah. Dann zog er sich das Foto wieder heran, um es erneut zu betrachten. Lewtschenko sah, wie sein Blick zwischen den Verletzungen hin und her wanderte.
»Gut«, sagte Hicks. »Ich werde mit ihm reden. Mit beiden. Ich will es jedenfalls versuchen.«
»Wirklich?«
»Ich werde sehen, was ich tun kann.«
»Ja.« Lewtschenko fiel ein Stein vom Herzen. Hoffnung entfaltete sich wie eine Blüte. Die Welt war wieder in Ordnung. »Bitte. Ja, bitte tun Sie das.«
»Dennoch muss ich Sie warnen …«
»Sie werden sie beschützen.«
Hicks antwortete nicht, verzog aber auch keine Miene. Rückblickend betrachtet, lag für Lewtschenko in der Miene des Mannes der Ausdruck purer Langeweile, und er erkannte, dass Hicks sich nur einen Spaß mit ihm gemacht hatte – dass er gar nicht vorgehabt hatte, tätig zu werden, dass es nichts als ein leeres Versprechen war, das nur dazu diente, diesen lästigen, einfältigen Bittsteller möglichst schnell wieder loszuwerden. Damals aber schöpfte er Hoffnung. Er glaubte daran, dass mit Emmy alles wieder gut werden würde.
Lewtschenko stand auf.
»Danke. Danke. Tun Sie alles, damit ihr nichts geschieht.«
Dann war er in der Nacht nach Hause gefahren – mit demselben Fahrrad, mit dem er jetzt unterwegs ist –, mit dem Gefühl, dass alles in Ordnung komme. Hicks würde mit John Doherty reden, und mit Emmy. Er würde erkennen, was für ein böser Mann Doherty war, und er würde ihn festnehmen und ihn irgendwo hinbringen, wo er Emmy nicht mehr weh tun konnte. So musste es doch sein, oder? Dafür waren die Behörden doch da – das Schöne vor der übermächtigen Gegenwart des Bösen zu schützen. Damals hatte er an so etwas noch geglaubt.
Aber zwei Tage später war Emmy tot.
Es tut mir leid.
Die Sicht verschwimmt vor Lewtschenkos Augen, so dass er überlegt, ob er nicht sicherheitshalber anhalten soll. Er fährt jetzt sehr schnell. Doch dann blinzelt er sich die Tränen weg, fährt weiter, nimmt Abkürzungen durch die sonst ruhigen und verlassenen Landstraßen. Er will nach Hause zu Jasmina. Er muss sie in den Armen halten.
Es tut mir leid.
Er weiß nicht einmal, bei wem er sich entschuldigt. Bei Gott? Bei Emmy? Vielleicht sogar, genauso seltsam, bei dem Polizisten?
Fast verliert er die Kontrolle über den Lenker und bremst etwas ab, blinzelt erneut die Tränen weg, durch die hindurch er die Straße nur verschwommen sieht. Bekommt sich wieder unter Kontrolle.
Er muss anhalten, bevor er stürzt.
Er muss –
Während er auf die Bremse tritt, hält Lewtschenko den Blick auf die Straße gerichtet, bis er bemerkt, dass sie nicht mehr menschenleer ist. An der Baumgrenze kurz vor ihm auf der linken Seite kommt jemand, ganz in Schwarz gekleidet, aus dem Wald gelaufen, als wolle er zu ihm.
Was ist – ihm bleibt kaum Zeit auszuweichen …
Dann explodiert die Welt.
Alles. Leuchtend rot.
Teil III
U nd was ist dann passiert?
Erst, erzählt der Junge dem Polizisten, ist alles wie in den anderen Nächten auch. Die Brüder hocken in ihrem kleinen, dunklen Zimmerchen und lauschen den Geräuschen vom hinteren Ende des Hauses, gleichzeitig aber sind sie bemüht, darüber hinwegzuhören. Irgendwann schläft der Junge ein, ohne es zu bemerken, denn mit einem Mal verspürt er einen Ruck, als sein Bruder aufsteht.
Im Haus ist es jetzt still.
Er ist schlafen gegangen, flüstert John.
Der Junge nickt benommen, dreht sich in seiner Koje auf die Seite und zieht die Knie an die Brust. Er erwartet, dass sein Bruder die knarzende Leiter ins obere Bett hinaufklettert, so dass sie beide noch ein wenig schlafen können. John aber bleibt im dunklen Schlafzimmer stehen. Er verhält sich ganz still, aber der Junge hört ihn atmen. Ein Knistern liegt in der Luft.
John?, sagt er.
Pssst.
Der Junge setzt sich wieder auf, unsicher. John?
Sein Bruder streckt seinen Arm nach ihm aus und berührt ihn an der Wange. Er hat das Gefühl, als würde die Hand zittern. Ist schon okay. Seine Stimme ist angestrengt, dünn. Es dauert nicht lang.
Wohin gehst du?
Ich habe seinen Schlüssel.
Der Junge braucht einen Augenblick, um zu begreifen, was er meint. Doch da hat sich sein Bruder schon wegbewegt, steht an der Schlafzimmertür und öffnet sie
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