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Kinder der Ewigkeit

Kinder der Ewigkeit

Titel: Kinder der Ewigkeit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Andreas Brandhorst
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aufhören, allein an sich selbst zu denken; er musste sich selbst beweisen, dass er ein anderer geworden war. Der Marionettenspieler lag tot da, doch er hielt noch immer die Fäden in den Händen.
    »Ich werde sie zerreißen«, murmelte er.
    »Was?« Leandra rieb sich die Arme, als sei ihr kalt. Es war eine vertraute Geste, und plötzlich bedeutete sie viel mehr, denn sie erinnerte Esebian an eine andere Frau, die die Kälte gesucht hatte, und das Ende in ihr. Ein Schritt trug ihn zu Leandra, und erneut schlang er die Arme um sie, diesmal echte, warme, aus Fleisch und Blut.
    »Sie hatte Recht«, sagte er leise. »Die Drohne hatte Recht.« Er wich ein wenig zurück und sah in Leandras fragend blickende Augen. Es lauerte kein Ungeheuer in ihnen, nur Einsamkeit, und ein Schmerz, mit dem sie El'Kalentar getötet hatte. »Ich brauche noch einmal deine Hilfe. Du hast gesagt, dass El'Kalentar böse war.«
    »Ich habe es gespürt, ganz deutlich …«
    »Wir müssen seine Pläne vereiteln«, sagte Esebian, und jedes einzelne Wort bestärkte ihn in seiner Entscheidung. »Wir müssen den Flug des Saatschiffs verhindern.« Er schnappte nach Luft, plötzlich atemlos vom Adrenalin, das durch seinen Körper jagte.
    Aus der Ferne kam das Geräusch von Schritten. Vielleicht Gardisten. Gab es Überwachungseinrichtungen an diesem Ort? Wussten die anderen Erlauchten, dass einer der ihren tot war?
    »Des Saatschiffs …?«
    Esebian fasste Leandra an den schmalen Schultern. »Schau in meine Erinnerungen. Etwas, das wie ein Berg aussieht, mit vertikalen Wänden und den Resten eines Gebäudes. Kannst du uns dorthin bringen?«
    Mehrere Angehörige der Ehernen Garde erschienen im Korridor, und hinter ihnen sah Esebian den roten und orangefarbenen Haarturm El'Farahs.
    »Siehst du den Berg?«, fragte Esebian mit drängender Stimme. »Siehst du die …«
    Etwas zog ihm den Boden unter den Füßen weg, und fast im gleichen Augenblick erschien eine Felslandschaft um ihn herum.
    »… Ruinen?« Esebian wankte. Es war wieder – oder noch immer – Nacht. Eisige Luft strich ihm durchs Gesicht, so dünn, dass er sofort in Atemnot geriet. Wind pfiff über Felsen, die gar keine Felsen waren, sondern eine Kruste auf dem oberen Teil des Saatschiffs. Einige Sekunden lang fühlte er die Kälte wie Messer aus Eis, die in seinen Körper schnitten, und dann hielt etwas den Wind fern. Leandra stand neben ihm und rieb sich die Arme, wozu sie diesmal auch allen Grund hatte.
    »Ich kann uns vor dem Wind schützen«, sagte sie. »Aber die dünne Luft …«
    Wie lange würden sie unter diesen Bedingungen überleben, bei Temperaturen, die weit unter dem Gefrierpunkt lagen, und in einer so dünnen Atmosphäre? Nicht mehr als einige Minuten, schätzte Esebian.
    »Leandra!«, stieß er hervor. »Was sich unter uns befindet, ist kein Berg, sondern ein Raumschiff, das sich auf den Start vorbereitet. Es darf diesen Planeten nicht verlassen, verstehst du?«
    Sie nickte, die Arme um sich selbst geschlungen.
    Esebian dachte an das Gespräch mit Erebos zurück, an seine Informationen über die Mentalistin. »Du hast einmal eine nukleare Kettenreaktion ausgelöst, nicht wahr?« Er atmete immer schneller. »Kannst du das hier wiederholen? Keine Explosion«, fügte er rasch hinzu. »Ein langsamer Nuklearbrand. In der Zitadelle soll niemand sterben.«
    »Ich weiß nicht …«
    »Versuch es! Ich mache mich daran, die Transitmembran zu reaktivieren.« Esebian wartete keine Antwort ab und stapfte den langgestreckten Hang hoch, in Richtung des Gebäudes, das aussah, als sei es von einem riesigen Hammer zertrümmert worden. Brandspuren auf dem Boden und graue Asche im Windschatten von Felsen erinnerten an die Gardisten, die brennend durch die Membran gekommen waren und hier den endgültigen Tod gefunden hatten. Nach einigen Minuten erreichte er den Rand der von Leandra geschaffenen Abschirmung und bekam wieder den Wind zu spüren, dessen Kälte ihm die Kraft aus dem Leib saugte. Sauerstoffmangel führte dazu, dass sich sein Blickfeld bereits verengte; es blieb nicht viel Zeit.
    Das Gebäude, nach den umgestürzten Säulen zu urteilen einst mindestens fünfzehn Meter hoch, hatte aus einem marmorartigen Material bestanden, das in der Düsternis keine Farben erkennen ließ. Esebian versuchte sich daran zu erinnern, an welcher Stelle der Retransfer stattgefunden hatte, doch die Bilder blieben vage hinter einem Vorhang aus erinnertem Schmerz, verursacht von den Schreien der Incera.

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