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Kinder der Ewigkeit

Kinder der Ewigkeit

Titel: Kinder der Ewigkeit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Andreas Brandhorst
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Gelegenheit bekam, sich einen Namen zu verdienen. Es war sein achtes Erwachen, wenn er sich recht entsann – noch zogen einige mentale Dunstschwaden der Benommenheit durch die Gedankensphäre –, und der Weckmechanismus hatte ihm bereits mitgeteilt, dass ihn diesmal keine Routineaufgaben erwarteten. Er war neugierig und konnte das Ende des Weckvorgangs kaum abwarten. Schließlich öffnete er die Augen, alle sechs, und sah den Sekundanten, der sich aus einem Wandsegment der Ruhekammer gebildet hatte.
    »Ich grüße Sie«, sagte das mechanische Geschöpf. »Wie fühlen Sie sich?«
    »Welche Aufgabe erwartet mich?«, fragte der Namenlose aufgeregt.
    »Wie fühlen Sie sich?«, wiederholte der Sekundant, obwohl er es doch wissen musste: Die Daten flüsterten durch die Kammer, nicht nur für die Rezeptoren des Sekundanten bestimmt, sondern vor allem für die Mutter im Herzen der Station. Der Namenlose freute sich bereits darauf, zu ihr zurückzukehren, und ein Teil von ihm fragte sich, wie viele Brutgeschwister er inzwischen bekommen hatte. Daraus ergab sich eine andere, wichtigere Frage.
    »Wie viel Zeit ist vergangen?« Er drehte zwei der sechs Augen, schaute sich um und lauschte gleichzeitig mit den Ohrfäden. Die Station … erschien ihm seltsam. Sie war still und …
    »Wie fühlen Sie sich?«, fragte der Sekundant erneut.
    »Gut«, sagte der Namenlose schnell. Vielleicht, dachte er, gehörte dies zu einer neuen Überprüfung.
    Der Sekundant hob eine seiner mechanischen Hände, und Daten leuchteten und flüsterten in dem Informationsfenster darüber. »Ihre Identitätsdaten entsprechen nicht der Norm. Es gibt …« Der Sekundant zögerte, und das war ungewöhnlich genug. »… Abweichungen. Ich muss Überprüfungen vornehmen. Bitte verzeihen Sie, Initiat.«
    Dem Namenlosen, gerade erwacht, schwanden die Sinne.
    Als er sich erneut der eigenen Existenz bewusst wurde, fühlte er sich besser als vorher – die Gedanken klarer, Nährstoffe in den beiden Mägen –, und die Schwere des Schlafs war von ihm gewichen.
    »Ihre physiologischen Werte entsprechen dem Standard«, erklang eine vertraute Stimme. »Aber die psychischen Abweichungen existieren nach wie vor.«
    »Abweichungen?«, wiederholte der Namenlose. Er fuhr seine sechs Augen ganz aus und neigte sie in verschiedene Richtungen, um sich zu betrachten: die vier Beine, jetzt ganz ausgestreckt und darauf wartend, sein Gewicht zu tragen; die drei Komponenten des zentralen Leibs, unter der Kleidung des Initiaten von einem immer noch weichen Hornpanzer umgeben; das auf den Halsgelenken aufgerichtete Oval des Kopfes, an dem noch die Sensoren des Schläfers klebten … Nirgends zeigten sich Veränderungen, und doch fühlte sich dieser vertraute Körper für einen sonderbaren, verwirrenden Moment völlig fremd an.
    »Ihre mentalen Werte liegen außerhalb der Toleranzen«, zirpte der Sekundant. »Vielleicht müssen wir …«
    »Nein«, sagte der Namenlose schnell und stand auf. Die Gelenke der vier Beine knackten, als er sie mit seinem Gewicht belastete, und für einen absurden Moment hatte er das Gefühl, dass vier Beine zu viel waren und ein Gelenk pro Bein völlig genügte. »Lass mich den Kommunikationsraum aufsuchen, um von meiner Aufgabe zu erfahren.« Er stapfte zur Tür. »Ich möchte mit den anderen reden. Ich möchte erfahren, was geschehen ist, während ich geschlafen habe. Ich möchte …« Es gab viele Dinge, die er sich wünschte, aber es hatte keinen Sinn, sie alle beim Namen zu nennen, noch dazu einem Sekundanten gegenüber, der sein geistiges Gleichgewicht in Gefahr sah. »Wie lange habe ich geschlafen?«, fragte er und eilte durch den Korridor, der zum Kommunikationszentrum der Station führte. Der Flur wurde nicht hell wie nach seinem letzten Erwachen – nur wenige Leuchtpunkte in der Decke glommen –, und die Temperatur lag nur knapp über der Toleranzgrenze. »Warum ist es so dunkel und kalt?«
    Der Sekundant folgte ihm. »Die Station stirbt. Das Warten hat zu lange gedauert. Und jetzt …«
    Der Namenlose blieb im Zugang einer weiteren Ruhekammer stehen, und seine sechs Augen neigten sich nach vorn, ließen ihre Blicke über die Kokons wandern. Sie waren geschlossen und mit den Wänden verbunden, aber ihr Inhalt lebte nicht mehr. Nicht ein Indikator glühte – dies war der Schlaf, aus dem es kein Erwachen gab.
    Er wollte noch einmal fragen, wie lange er geruht hatte und was geschehen war, aber stattdessen lief er los, obwohl ihn sein Körper darauf

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