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Kinder der Ewigkeit

Kinder der Ewigkeit

Titel: Kinder der Ewigkeit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Andreas Brandhorst
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gesessen: Gunder, Dorotheri, Kyrill, Evan Ten-Ten, Talanna und Caleb, der eine Träne vergoss, bevor er verschwand. Sie alle ruhen nun in ihm, Teile eines langen Lebens, das noch viel länger dauern, bis in die Ewigkeit reichen soll. Dicht bei der Flamme bleibt Esebian stehen und sieht, wie sie in der von ihm bewegten Luft flackert. Es erstaunt ihn, dass sie erneut brennt, denn er erinnert sich: Beim letzten Verlassen dieses Ortes hat er sie ausgepustet. Vielleicht, denkt er, brennt sie gar nicht mehr für ihn, sondern für jemand anders. Er streckt die Hand aus und hält den Zeigefinger hinein, aber das Licht des Lebens verbrennt ihn nicht. Es wärmt nur.
    »Leandra …«, sagt er und nähert sich der Frau in der Ecke. Sie erstarrt, ihr Schluchzen hört auf und sie dreht den Kopf.
    »Du«, flüstert sie. »Du!«, schreit sie, kommt mit einem Satz auf die Beine und springt auf ihn zu, die Hände ausgestreckt, die Finger wie Krallen. In ihren großen grünen Augen blitzt es, und dies ist ein Feuer, das Esebian verbrennen kann. »Du hast mich hier eingesperrt!«
    Er weiß: Dies ist nur ein Moment, ein gestohlener Augenblick, während die Ereignisse – wären sie ein lebender Organismus – den Atem anhalten und warten. Aber er weiß auch, dass ihre Geduld begrenzt ist. Dies ist ein Moment der Wahrheit, nicht der Lüge. Wahrheit muss ihm das Leben retten.
    Deshalb lässt er Leandra herankommen. Er wehrt sich nicht. Seine Gedanken bleiben offen und zeigen, dass es seine Absicht gewesen war, sie einzusperren, nicht an diesem Ort, aber in der Möbiusschleife.
    Ihre Finger sind tatsächlich Krallen, sie reißen ihm das Hemd auf und hinterlassen blutige Striemen auf der Brust. Leandras Kreischen und Heulen vibriert in seinen Knochen, ihr Zorn brennt durch sein Bewusstsein, viel heißer als die Flamme des Lebens auf dem Tisch. Esebian lässt alles mit sich geschehen. Der Versuch, Widerstand zu leisten, wäre ohnehin sinnlos, denn gegen die mentalistischen Fähigkeiten kann er nichts ausrichten.
    »Ich bin gekommen, um dich zurückzuholen«, sagt er so ruhig wie möglich, während Leandras Fäuste auf seine Brust trommeln. »Wir bleiben zusammen, für immer. Du wirst nie wieder allein sein, Leandra. Hörst du? Nie wieder. Aber vorher musst du mir helfen.«
    Sie schreit noch immer, schrill wie eine Sirene, und er legt die Arme um sie, trotz der Schmerzen in Körper und Geist. Er umarmt die junge Frau mit dem zerzausten blonden Haar, den großen grünen Augen und Lippen, auf denen jetzt keine Mikrokristalle glänzen. Vorsichtig drückt er sie an sich, die Schläge hören auf und aus dem Heulen wird wieder ein Schluchzen, wie es ihn in diesem Raum mit dem langen Tisch empfangen hat. So viel Schmerz, denkt er und meint damit nicht den eigenen. So viel Verzweiflung. Er erinnert sich an Ayanne in dem Moment, als sie ihre toten Kinder sah, und später, als sie allein zu dem kleinen zugefrorenen See ging, um dort zu sterben, beim Schloss aus Schnee, von Darrell und Tanya für eine imaginäre Eiskönigin errichtet. Als Leandra schließlich still wird und ihn ansieht, scheint sie kein blondes Haar mehr zu haben, sondern dunkles, wie damals Ayanne. Esebian weiß, dass es die Gedanken der Mentalistin sind, die ihm dies vorgaukeln, aber es spielt keine Rolle. Er schlingt die Arme noch etwasfester um Leandra, um sie zu wärmen, damit sie am Ufer des Sees nicht erfriert.
    »Wir bleiben zusammen?«, fragt Leandra leise und wischt sich Tränen aus den Augen, die ebenfalls dunkel geworden sind. »Für immer?«
    »Ja, für immer«, sagt Esebian und denkt daran, dass er damit eine lange Zeit meint. Leandra ist jung, er selbst unsterblich. Alles hat seinen Preis, hatte die Drohne gesagt. Vielleicht ist dies der Preis seines Lebens und Teil der Buße, mit der er die Last der Schuld verringern kann.
    »Warum hast du es getan?«, fragt sie, den Blick noch immer auf ihn gerichtet. »Warum hast du mich hier eingesperrt?«
    Esebian bleibt bei der Wahrheit. Der Raum ist groß, aber er bietet nicht genug Platz für Lügen. »Weil ich mich vor dir gefürchtet habe.«
    Der Glanz in ihren Augen verändert sich. »Du weißt alles über mich. Du weißt von Echaura.«
    »Ja.«
    Leandras Lippen bewegen sich, langsam, wie zögernd, und formen ein Lächeln. »Du brauchst keine Angst vor mir zu haben«, sagt sie, und Esebian begreift, dass sie Recht hat. Warum hat er sich überhaupt Sorgen gemacht? »Und ich helfe dir natürlich. Ich habe dir immer geholfen, wenn

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