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Kinder der Ewigkeit

Kinder der Ewigkeit

Titel: Kinder der Ewigkeit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Andreas Brandhorst
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beschloss, nach dem kleinen Finger der linken Hand den ganzen Arm zu opfern. Er schaltete die Schmerzrezeptoren aus, rammte die Hand in einen mehrere Zentimeter breiten Riss in der Konsole und begann, den Arm mit den Fingernägel-Emittern der rechten Hand abzutrennen. Gleichzeitig bündelte er seine Sensoren, schuf mit ihnen eine energetische Brücke im Transferitor und leitete die chemisch-nukleare Umwandlung des linken Arms ein, als sich ein dünner weißer Strahl durch den Knochen fraß. Esebian verzog das Gesicht – einige Nerven wollten nichts von Abschaltung wissen und schickten dem Gehirn Schmerzsignale.
    Scheinwerferlicht tastete über den Villenkomplex auf dem Lebensfelsen.
    »Was machst du da, was machst du?«, rief Leandra entsetzt.
    »Der Arm liefert zusätzliche Energie«, stieß Esebian hervor. Der Knochen gab nach, und dadurch hatte er die rechte Hand frei. Seine Finger huschten über Schaltelemente, die nur für den Notfall gedacht waren; normalerweise bediente man den Transferitor über das Gesteninterface. »Aufs Transferfeld!«
    Leandra starrte ihn an, und Esebian zerrte sie mit sich zu den Kacheln in der Mitte des Pavillons. Jähes Feuer verschlang den abgetrennten Arm, und über den Kacheln flimmerte es. Esebian gab der jungen Frau einen Stoß, verlor das Gleichgewicht und fiel, als der Transferitor aktiv wurde und seinen Körper in ein Datenpaket verwandelte. Nur einen Moment später strich ein von Observanten gelenkter Scheinwerferstrahl über den leeren Pavillon.

 
19
     
    Ein Schritt für jeden Tag deines Lebens, hatte die schwarze Gestalt gesagt. Wie viele Schritte liegen bereits hinter mir?, fragte sich Esebian, als er durch die dunkle, kalte Wüste wanderte. Es war eine dumme Frage, fand er. Ich sollte besser fragen: Wie viele Schritte liegen noch vor mir? Und was geschieht, wenn ich den letzten Schritt getan habe?
    Hier an diesem Ort, wo auch immer, hörte er nicht die Stimmen seiner früheren Leben, und es gab auch keine Erweiterungen, die ihm dabei halfen, mit all der Mühsal fertig zu werden. Es gab nur die endlose Wüste, die Sterne am Himmel und seine kreisenden Gedanken. Manchmal hörte er ein Heulen in der Finsternis, aber er war nicht ganz sicher, ob es von dort kam und nicht vielleicht irgendwo aus seinem Innern.
    Während der grauen Tage, die oft Wind brachten, dämmerte er im Schutz von Felsen dahin, und wenn die Dunkelheit zurückkehrte, brach er wieder auf, ohne zu essen oder zu trinken, ohne ein einziges Mal zu schlafen. Echte Ruhe gab es nicht an diesem Ort, keine Verschnaufpausen, und die eigenen Gedanken wurden zum schwersten Ballast, den Körper und Geist tragen mussten.
    Nach hundert Tagen, oder vielleicht nach hundert Jahren, als Esebian während eines weiteren grauen Tages an einen Felsen gelehnt saß, fiel sein Blick auf einen faustgroßen Stein, der ihm zuzuflüstern schien: Nimm mich. Er nahm ihn, wog ihn in der Hand und beneidete den Stein, der nicht denken und nicht endlos durch die Wüste wandern musste.
    Dann legte er die linke Hand auf den Felsen – aus irgendeinem Grund erstaunte es ihn, dass sie noch da war –, hob den Stein und schlug mit aller Kraft zu.
    Haut riss, Fingerknochen brachen, und Schmerz vertrieb die müde Lethargie. Esebian kniff die Augen zusammen, und als er sie wieder öffnete, befand er sich in einer anderen düsteren Welt.

 
20
     
    Jemand hatte ihm die kauterisierte linke Schulter verbunden, und als Esebian an sich herabsah, im kalten Schein chemischer Lampen, merkte er, dass er Gewicht verloren hatte, mindestens zwanzig Kilo. Er war nicht mehr schlank, sondern dürr und ausgemergelt. Fettgewebe und Zellmaterial als Brennstoff für die Konverterzellen, die seine Erweiterungen mit Energie versorgten. Der Kampf gegen Tirrhel war im wahrsten Sinne des Wortes an die Substanz gegangen.
    »Bist du wach?«, fragte Leandra. »Ich meine, richtig wach?«
    Ihr Gesicht schien in der Dunkelheit zu schweben, und für einen Moment dachte er, dass sie beim Transfer irgendwie den Körper verloren hatte und mit einem Null-Avatar verbunden war, oder einer Maschine, die in der Finsternis verborgen blieb. Aber dann kam sie näher, gekleidet in einen fleckigen, zu großen Overall, an den er sich nicht erinnerte. Aus der Finsternis hinter ihr flüsterte insektenhaftes Zirpen, und schemenhafte Gestalten bewegten sich dort. Esebian versuchte, sie genauer zu erkennen, aber das war ihm nicht möglich. Die Erweiterungen seiner Augen funktionierten nicht

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