Kinder des Feuers
fortfliegen. Die Nordmänner haben die Burg erstürmt und verbrannt – töten konnten sie jedoch niemanden. Die Menschen blieben Gänse und kehren seitdem jährlich nach Pirou zurück, wo sie traurig über ihren einstigen Besitz fliegen.«
So erhaben wie möglich blickte Mathilda an Daniel vorbei. Sie wusste nicht, was er mit dieser Erzählung bezweckte.
Er lachte auf. »Pass auf, dass du keine Gans wirst«, murmelte er. »Es könnte sein, dass du dann auf ewig eine bleiben musst.«
Da wusste sie: Auch wenn ihm verborgen geblieben war, dass sie schwanger war, hatte er erkannt, dass sie ihre Mutter getäuscht hatte. Sie erschrak – und war zugleich erleichtert, dass es einen gab, dem sie nichts vormachen musste.
»Wenn man solche Legende dereinst über dich erzählen würde – dann wäre gewiss nicht von Gänsen die Rede, sondern von Würmern«, stieß sie aus.
Der Mönch lachte wieder. Er hatte in seinem Leben wohl zu viel Leid erfahren, um noch gekränkt werden zu können.
Mathilda überlegte kurz, ihn einfach stehen zu lassen, entschied dann aber, ihn zu benutzen, um mehr über ihre Lage herauszufinden.
»Hier im Wall scheint viel Unruhe zu herrschen. Da ist ein ständiges Kommen und Gehen.«
Er nickte und berichtete dann freimütig. »Das liegt daran, dass mehr und mehr Heiden aus Dänemark ins Land strömen. Deine Mutter wirbt um ein Bündnis.«
Was wiederum bedeutete, dass Hawisa sie als Gäste zu bewirten hatte und dadurch abgelenkt war.
Mathilda blickte sich um und deutete schließlich auf zwei Männer, die beim Tor des Walls Wache standen. »Wer sind die zwei?«, fragte sie.
Wieder zögerte Daniel nicht, zu antworten. »Wromonoc und Rualoc«, sagte er. »Aber wenn ich dich rechtens einschätze, interessieren dich nicht ihre Namen, sondern ob sie zu jener Sorte Mann gehören, die sich gern betrinkt. Das tun sie jeden Abend. Aber ob sie dann trunken genug sind, dich fliehen zu lassen, bezweifle ich.«
Sein Kichern wurde unerträglich.
»Ich will nicht fliehen!«, fuhr sie ihn an.
»Gewiss nicht!«, spottete er, duckte sich und ging von dannen.
Mathilda sah, wie seine Schultern unter seinem Gelächter zitterten. Seine Belustigung erschien ihr so falsch wie ihre Beteuerung, nicht zu fliehen.
Er hat keinen Spaß, dachte sie, er ist ja selbst verzweifelt – so wie die Menschen, die als Gänse über Pirou fliegen und wissen, dass ihr altes Leben verloren ist. Doch wenn sie den Schnabel öffnen, um zu klagen, kommt nichts als Schnattern hervor. Sie sind nicht einmal in der Lage, ihren Kummer mit den rechten Lauten auszudrücken, mit Seufzen und Weinen und Heulen.
Fortan mied sie Bruder Daniel, das Leben blieb trotzdem eine Qual und die Furcht um ihr ungeborenes Kind erdrückend. Immer wieder drehte sie Runden im Hof, um sie abzuschütteln – des Tags und auch bei Nacht.
Oft starrte sie aufs Meer, bei Dunkelheit ein schwarzes Tuch, in dem sich die Mondsichel spiegelte – kein Himmelskörper, der von der jenseitigen Glorie und Gottes Größe kündete, sondern hart und spitz wie eine gefährliche Waffe, die blutig schnitt, wer sie berührte. Manchmal blickte sie von den Aussichtspunkten des Walls auch sehnsüchtig auf die Wälder im Landesinneren, in der Nacht einer dunklen Mauer gleichend, wenngleich nicht undurchlässig wie der Wall, kein Gefängnis auch wie dieser, sondern ein verheißungsvolles Versteck für eine, die immer noch an Flucht dachte.
Eines Abends wurde Mathilda von einer Gestalt aufgehalten. Es war der Mann aus Stein, wie sie ihn nannte, Hasculf, der Verwandte ihres Vaters, nach Hawisas Willen ihr künftiger Mann. Er und sie König und Königin der Bretagne. Sie unterdrückte ein Schaudern.
»Ich will allein sein.«
»Mich täuschst du kein weiteres Mal«, sagte er. »Wenn du zu fliehen versuchst, werde ich es verhindern.«
Dass er seine Worte ohne Gefühl sprach, ohne Schadenfreude, Ärger, Abfälligkeit, setzte ihr noch mehr zu. Es war bitter, gefangen zu sein, und noch bitterer, inmitten so erkalteter Menschen zu leben, gebrochener, wahnsinniger oder einfach nur gleichgültiger Menschen, deren Augen zwar manchmal funkelten, aber keine Wärme verhießen. Plötzlich wollte sie ein Feuer lodern sehen, auch wenn es sie verbrennen würde.
»Du bist mehrere Male gescheitert, mich hierher zu bringen«, spottete sie giftig. »Hawisa muss dich dafür bestraft haben.«
Sie hatte sich nicht getäuscht – hinter der harten Schale schlummerte Stolz, und der konnte verletzt werden.
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