Kinder des Feuers
Meer Blumen?
Ja, das Licht am Ende der Höhle fiel nun auf diese Blumen, doch anstatt sie zu liebkosen wie wärmende Sonnenstrahlen, schien es die Blütenblätter zu verbrennen. Alsbald fielen sie ab, und die Stängel und Blätter wurden so grau, als wären sie mit Asche bedeckt. Mathilda blickte sich suchend um. Sie hörte Arvids Herzschlag nicht länger, und sie erblickte nirgendwo den blonden Mann.
Plötzlich wusste sie, was das zu bedeuten hatte, sie wusste es und hörte es auch: »Er ist tot«, sagte eine Stimme immer wieder, »er ist tot.« Der Mann, der sie hochgeworfen hatte. Der Mann, der Stärke und Schutz verheißen hatte. Der Mann, der sie liebte. Er war tot, und sie war allein. Nein, nicht ganz allein. Da war diese Frauenstimme, so voller Trauer, so voller Hoffnungslosigkeit. »Er ist tot«, sagte sie wieder und wieder. Und dann: »Wir müssen sie von hier fortbringen.«
Mathilda blickte sich um. Da war kein Gesicht, in das sie schauen konnte, da waren keine Hände, die sie streichelten, da waren nur noch mehr Stimmen.
»Das kannst du doch nicht tun«, sagte eine andere. »Wie willst du es ertragen, dich von ihr zu trennen?«
Kurz blieb es still, dann antwortete die andere Frau, diesmal nicht traurig und hoffnungslos, sondern kalt. »Mir bleibt keine andere Wahl. Sie muss von hier fort. Hier ist sie nicht sicher vor … ihr .«
Nun spürte sie doch Hände, Hände, die erst nur zögernd über ihren Kopf strichen, die sie dann hochhoben und an sich pressten. Die Hände waren kalt wie die Stimme, nichts hatten sie gemein mit denen des blonden Mannes, bei dem sie sich sicher gefühlt hatte. Die Hände zitterten.
»Nein«, wollte Mathilda sagen. »Nein! Schick mich nicht fort. Ich will bleiben.«
Doch sie konnte noch nicht reden, sie war zu klein dazu, nur schreien konnte sie, durchdringend und panisch. Sie schrie die Blumenwiese fort, das Meer, die Frauen, die Höhle. Die Hände jedoch ließen sie nicht los.
Als sie die Augen aufschlug, waren es nicht mehr kalte und zitternde, sondern feste und warme. Es waren die von Arvid. Sein Gesicht war ganz dicht vor ihrem. »Mathilda! Mathilda, was hast du denn?«
Sie hörte zu schreien auf, aber ihre Augen füllten sich mit Tränen.
Sie weinte, wie er noch nie einen Menschen hatte weinen sehen. Die Tränen glichen einem reißenden Fluss, der nichts von jener Kraft übrig ließ, mit der sie vor ihren Verfolgern geflohen war. Ihr Körper zitterte nicht nur, er verkrampfte sich, als litte er unter Schmerzen. Und ihre Zähne klapperten nicht nur vor Kälte, sondern so, wie man es den heulenden Sündern nachsagte, wenn sie sich ihrer ewigen Verdammnis bewusst wurden. Nun, auch sie schien verdammt zu sein, und ihre Hölle war, nicht zu wissen, woher sie kam. Das stammelte sie zumindest immer wieder.
»Wer bin ich, wer bin ich nur? Die Blumenwiese – sie wurde plötzlich so grau. An jenem Ort war ich geborgen und in Sicherheit … danach nie wieder. Der blonde Mann … ich weiß nicht, wer er war. Aber ich weiß, dass er gestorben ist, und danach blühten die Blumen nicht mehr …«
Arvid verstand nicht genau, was sie meinte, aber er wusste, wie sehr der Gedanke an die eigene Herkunft quälen konnte – auch wenn es bei ihm nicht das Fehlen, sondern das Zuviel an Wissen war, das peinigte. Was war schlimmer? Im Dunkeln zu tappen wie sie? Oder von zu grellem Licht geblendet zu werden wie er?
In jedem Fall war ihm ihr Kummer vertraut, und ihre Tränen schufen eine Nähe, die ein Lächeln nie erzeugt hätte. Ein Lächeln wäre zu sanft gewesen, jene Mauer zu überwinden, die zwischen zweien stand, die ihr Leben Gott geschenkt hatten. Aber das Salz ihrer Tränen glaubte er zu schmecken, und was jene Tränen freispülten, fühlte er mit gleicher Inbrunst wie sie – nicht nur den Hader mit der eigenen Herkunft, auch den Drang nach Leben, die Angst vor dem Tod und die Ahnung, dass jener Tod kein sanfter, dunkler Engel war, wie man ihn sich im Kloster dachte, sondern ein grausamer Schlächter, der auf unschuldige junge Mädchen mit einem Messer losging. Diesen Tod besiegte man nicht, indem man betete und beharrlich sein Fleisch abtötete, sondern indem man jene Wärme auskostete, die ihr Anblick in ihm zeugte.
»Schscht«, machte er, »schscht.«
Er klang ein wenig hilflos, denn er wusste nicht, wie man Frauen tröstete. Aber er wusste, dass es gut war, nicht allein zu sein, wenn es galt, die Furcht vor der Zukunft zu ertragen, durch den Wald zu irren und eine
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