Kinder des Feuers
dunkle Macht in sich zu spüren: seines Vaters Blut, das wie Feuer durch seine Adern rann und bewirkte, dass er den nächtlichen Angreifern nicht einfach nur entfliehen wollte, sondern sie am liebsten getötet hätte. Dass er nicht nur einmal ein Schwert in ihren Leib hatte rammen wollen, sondern immer und immer wieder. Nun, er hatte kein Schwert gehabt, und er hätte nicht gewusst, wie man es führte. Er hatte nicht mal einen Mantel, um Mathilda darin einzuhüllen und sie zu wärmen – nur den eigenen Körper, an den er sie drücken konnte. Es war nicht viel, was er da zu geben hatte, und deshalb sparte er nichts davon auf.
Arvid strich Mathilda über den zitternden Rücken und rieb seine Wange an ihrer. Auf seiner wuchsen Bartstoppeln, ihre war rau von den Krusten kaum verheilter Wunden. Wahrscheinlich fügte er ihr nun neue zu, doch er hörte nicht auf damit, presste vielmehr nun auch seinen Lippen auf ihre. Die Lippen waren nicht rau. Sie waren warm und weich. Ihr Atem verschmolz zu einem, in ihren Brüsten pochte nur mehr ein Herz, ihre Leiber wuchsen zusammen und entspannten sich. Die Vergangenheit zählte nicht mehr – es zählte nur, dass sie der Einsamkeit für einen Augenblick entfliehen konnten und dass sein unheilvoller Drang zu zerstören in ihrer Gegenwart dem Verlangen nach Geborgenheit wich.
Er öffnete seine Lippen und sie die ihren, und er schmeckte ihre Zunge. Nie hatte er dergleichen gemacht, aber es fühlte sich nicht fremd an, vielmehr so, als hätte er sich immer nur danach gesehnt, und nicht nur dafür gelebt, in einer einfachen grauen Zelle zu hocken und Psalmen zu singen. Lächerlich erschien es ihm kurz, die Größe eines Gottes zu preisen, den man nicht berühren und umarmen, an dem man sich nicht wärmen und den man nicht küssen konnte – lächerlich und sinnlos gemessen an der Gier, Mathildas Körper zu erkunden, erst mit Händen, dann mit Lippen, erst gemächlich, dann voller Hast. Während sie sich küssten, strich er ihr über die Haare, den Nacken, den Rücken. Schließlich wanderten seine Hände zu ihren Brüsten, umfassten und streichelten sie. Ein Keuchen entfuhr ihr, nicht von Schmerz kündend, wie er zunächst befürchtete, sondern von Lust: Sie hob ein Bein, um ihren Körper noch fester an seinen zu pressen, öffnete den Mund noch weiter, auf dass ihre Zunge jeden Winkel von seinem Mund erforschen konnte.
Doch jener Augenblick, da er am liebsten ebenso stürmisch seine Kleidung ablegen wollte wie die Erinnerung an seine Berufung, währte nicht lange. Dann fiel ihm wieder ein, warum er den Gott, der nicht küssen konnte, hatte verehren wollen: Weil jener nicht schmutzig war, sondern über die Welt erhaben, weil er sich als mächtiger erwies als die ränkeschmiedenden Menschen und weil er zuletzt über das Böse triumphierte. Sich diesem Gott zu schenken war immer noch verlockend – ein wenig verlockender sogar, als Mathilda zu küssen.
Er löste seine Lippen von ihren und fuhr entsetzt zurück.
Als Arvid sie losließ, fühlte Mathilda Bedauern. Noch schmerzhafter als das war die Kälte. An ihn gepresst war ihr so warm gewesen, jetzt fror sie bitterlich wie nie. Nicht nur, dass eine Gänsehaut ihre Haut überzog, ihr Herz, eben noch hektisch pochend, schien zu vereisen, umso schneller und absoluter, als sie in seinem Gesicht das Entsetzen sah. Noch erfasste es sie nicht. Noch dachte sie: Wir haben uns geküsst, und wir waren uns nah, wie einander zwei Menschen nur sein können, wir gehören zusammen, weil es in diesem Wald niemanden sonst gibt als uns und unsere Widersacher … na und?
Aber dann fühlte auch sie es. Schlimm genug, dass fremde Mächte ihr Leben aus der Bahn geworfen hatten. Nie wieder würde sie zu angestrebter Ordnung zurückfinden, wenn obendrein der eigene Wille schwach war.
»Gütiger Himmel, das wollte ich nicht!«
Sie war sich nicht sicher, ob sie die Worte laut gerufen oder nur gedacht hatte. Aber auch sie wich vor ihm zurück.
Arvid nickte bekräftigend, brachte noch mehr Abstand zwischen sie beide, ging dann unruhig auf und ab, bekundend, dass in Bewegung zu bleiben die einzige Möglichkeit sein durfte, sich warm zu halten. »Das darf nie wieder passieren!«
»Natürlich nicht!«
»Wir sind Bruder und Schwester im Herrn, weiter nichts.«
»Gewiss. Wir führen ein Leben in Keuschheit und dürfen uns nicht vom Satan verführen lassen.«
»Was eben geschehen ist, war nur ein Moment der Schwäche, den auch große Heilige durchlitten haben.
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