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Kinder des Judas

Titel: Kinder des Judas Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Markus Heitz , Markus Heitz
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gab ihr einen Kuss auf die Stirn. »Aber nun bete und geh zu Bett. Du hast Schlaf verdient.«
    Sie nickte und schleppte sich die Stufen nach oben.
    Karol sah hinüber zum Wasserkessel, aus dem das Wasser brodelnd überkochte und zischend auf der heißen Herdplatte verdampfte. Eine Entschuldigung bei Lydia war wirklich angebracht, zudem konnte er es sich nicht leisten, Verbündete zu verlieren.
    Er stand auf und schob den Kessel vom Feuer. Dass der Dampf seine Haut verbrühte, scherte ihn nicht. Mehr Sorgen machte er sich um Scylla.
    Er konnte ihr einfach nicht sagen, dass ein weiteres Nein der Cognatio ihren Tod bedeutete.

IX.
Kapitel
    17. Februar 1677
Osmanisches Tributland
     
    S cylla marschierte den verschlungenen Weg entlang, vorüber an den mächtigen Tannen und begleitet von einem Schwarm Krähen, der über ihrem Kopf kreiste; der Schnee knirschte unter den Sohlen.
    Es hatte lange gedauert, bis sich Scylla das Recht nahm, einen Fuß vor die Mühle zu setzen, ohne dass ihr Vater dabei in der Nähe war. Zwar erlaubte ihr der gewonnene Zweikampf gegen Frans dieses Privileg, doch es bedurfte einiges an Überwindung, es in die Tat umzusetzen.
    Dabei fürchtete sie sich weniger vor der Welt, die sie so lange nicht mehr betreten hatte, sondern mehr vor einer ganz bestimmten Person: Giure.
    Ein Dreivierteljahr war ohne Nachricht und ohne einen Besuch von ihm verstrichen. Scylla hatte gegrübelt, ob es ein guter Einfall war, den Hirtenjungen aufzusuchen, denn sie fürchtete sich vor einer offen ausgesprochenen Abweisung, da sie bislang immer noch die Hoffnung gehegt hatte, dass es wieder werden würde wie früher. Ein Treffen von Angesicht zu Angesicht konnte diese Hoffnungen mit einem einzigen Satz vernichten.
    Dennoch musste sie ihn sehen. Er war ihr einziger Freund, die einzige Verbindung zu den einfachen Menschen; sie vereinte etwas, das nichts mit Rationalität und Wissenschaft zu tun hatte. Es verlangte sie, sich mit ihm auszusprechen und ihm zu erklären, was er in jener Nacht beobachtet hatte.
    Weder ihr noch Karol war entgangen, dass sich keine Dörflermehr vor der Mühle blicken ließen, um nach medizinischem Rat zu fragen. Während Karol es auf seine Behandlungserfolge schob, verband Scylla es eher mit dem Ereignis von damals. Giure hatte es vielleicht jemandem erzählt, der es wiederum weitergetragen hatte …
    Sie verließ den Wald mit einem beherzten Schritt und sah das offene, verschneite Feld vor sich. Scylla atmete tief durch, sog die eisige Luft in die Lungen. Es würde mindestens zwei Stunden dauern, bis sie das Dorf erreicht hatte, in dem Giure lebte, also lief sie, statt einfach zu marschieren, um so schneller an ihr Ziel zu gelangen.
    Scylla machte das rasche Laufen nichts aus, und sie fand es nur mäßig anstrengend. Durch die vielen Stunden, die sie in der Scheune von klein auf mit Körperertüchtigung und Messerkampf verbracht hatte, war sie ausdauernd geworden.
    So näherte sie sich bald der kargen Siedlung, die in einem sanften Tal an einem Bach beheimatet war. Scylla verlangsamte ihre Geschwindigkeit und zog nach kurzem Überlegen die Stola von den Schultern bis hoch über ihren Kopf. Es musste nicht jeder auf Anhieb ihr Gesicht erkennen.
    Hunde bellten, als sie in das Dorf vordrang. Die Hütten sahen alt aus, das Fachwerk war rissig, und die Steine wiesen bröckelnde Stellen auf. Es fehlte den Menschen an Geld, die Schäden ausbessern zu lassen. Der Wind wehte die hellgrauen Qualmwolken aus den Schornsteinen umher, niemand ließ sich im Freien blicken. Gelegentlich vernahm Scylla Tierstimmen aus den Ställen, ansonsten war es sehr still.
    Wenn sie sich richtig erinnerte, hatte Giure gesagt, dass er und seine Familie im ersten Haus auf der rechten Straßenseite lebten. Sie wandte sich der Behausung zu, die am ärmlichsten von allen aussah und an die ein winziger Stall angebaut war; dahinter erstreckte sich ein verwaistes Gatter, in dem in Frühjahr und Sommer die Ziegen gehalten wurden.
    Scylla war von der offensichtlichen Armut überrascht. Die Jahre bei ihrem Vater in der Mühle, umgeben von allem, was sie benötigte, ohne Hunger und Entbehrung, hatten sie vergessen lassen, wie sie und ihre Mutter einst gelebt hatten. Der Anblick der vom Verfall bedrohten Hütten beschwor die Vergangenheit herauf.
    Scylla ging auf Giures Heim zu und klopfte an die Tür. Es dauerte nicht lange, bis ihr geöffnet wurde. Sie sah in die dunkelgrünen Augen eines Mädchens in ihrem Alter, das sie verblüfft

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