Kinder des Judas
ins Haus zurück; die Männer sahen ihr nach, dann gingen sie ebenfalls.
»Danke«, sagte Scylla zu Giure, nachdem sie das Dorf schweigend verlassen hatten. »Wie kommt deine Schwester auf einen Fluch?«
»Es ist eine Legende, mehr nicht. Schon der Vater deines Vaters und dessen Vater lebten in der Mühle, und alle sahen gleich aus, als wären sie Zwillingsbrüder, aber niemals hat man eine Frau und Gemahlin oder Nachkommen gesehen.« Giure reichteihr die Hand. »Du bist das erste Kind. Deswegen sind Elisabetha und einige andere dir gegenüber noch argwöhnischer.« Er zog sie vom Weg seitlich ins Unterholz. »Komm, ich zeige dir die Stelle, von der ich gesprochen habe.«
Scylla ließ ihn gewähren und folgte ihm. »Ich bin bei meiner Mutter aufgewachsen. Als ich starb, holte mein Vater mich zu sich.«
Er lachte. »Auf diese Erklärung ist keiner von ihnen gekommen. Sie glauben lieber an … was weiß ich … die Dämonen in der Mühle.«
Es dauerte einige Zeit, bis sie auf einer Lichtung angelangt waren, auf der mitten zwischen den Tannen eine gewaltige Eiche stand, die ihre Äste ausbreitete, als würde sie sich verteidigen und die umstehenden Bäume in Schach halten. Efeu rankte sich um sie und erweckte beinahe den Eindruck, als stünde sie trotz des Winters in vollem Laub.
Scylla verharrte. »Wie schön.« Sie ließ seine warmen Finger nicht los und genoss die Nähe des jungen Mannes, der sie nun wieder vorwärtszog, unter die Eiche.
»Ich habe diesen Platz durch eine Fügung gefunden. Es gibt einen gewaltigen Bären in der Gegend, der meine Ziegen überfiel und verschreckte. Auf der Suche nach ihnen kam ich hierher.« Giure entzündete ein Feuer, an dem sie sich wärmten, und sah ihr in die Augen. »Jetzt sag mir, was ich beobachtet habe, als ich vor der Mühle auf dich wartete.«
»Bist du deswegen nicht wieder zu mir gekommen?«
Er zögerte. »Ich war zu verwirrt von dem, was ich sah«, gestand er. »Als ich meinen Mut wiedergefunden hatte, wagte ich es nicht, mich dir noch einmal zu zeigen, weil ich feige geflüchtet bin, statt zu bleiben.«
»Aber du hast mit anderen darüber gesprochen?«
Er nickte. »Mit dem Popen. Er hat geschworen, es niemandem sonst zu berichten.« Giure fasste ihre Hände. »Erzähl mir alles.Ich möchte es wissen, damit ich dir wie früher vertrauen kann. Was treibt ihr in der Mühle, dass ihr eine verstümmelte Upirina nachts vor der Tür ablegt, damit sie zu Kräften kommt, um sie danach zu köpfen?« Er schauderte. »Und du, Scylla, hast dich bewegt wie eine … Kriegerin. Von deiner Tapferkeit wusste ich damals schon, als du mit dem Luchs gekämpft hast. Aber gegen eine
Untote!
Du hattest nicht einmal Angst vor der Upirina, während ich vor Schreck beinahe vom Baum gefallen wäre.«
Scylla überlegte und erinnerte sich an die mahnenden Worte ihres Vaters, Forschung und Erkenntnisse für sich zu behalten. Dennoch wollte sie nach dieser vielversprechend beginnenden Aussöhnung nicht Gefahr laufen, Giure letztlich doch zu verlieren.
Sie wusste, dass er für einen einfachen Mann einen sehr wachen Verstand besaß. Der Einfall kam ihr zugeflogen: Wenn sie ihn für die Wissenschaft begeisterte, könnten sie gemeinsam forschen, und er hätte an ihrer Seite ein besseres Leben in der Mühle! Zudem würde es ihr Vergnügen bereiten, ihrem Vater zu beweisen, dass Giure nicht der nichtsnutzige Ziegenjunge war, für den er ihn hielt.
Sie lächelte. »Ich muss dir etwas erklären, aber du darfst es niemandem erzählen, nicht einmal dem Popen.«
Giure zögerte. »Ich weiß nicht …«
»Schwöre es!«, bat Scylla inständig und drückte seine Finger. Sie machte einen Schritt nach vorne, so dass sie Körper an Körper standen. Es löste in ihr neue, wunderschöne Gefühle aus, die Schauer bis in den letzten Winkel ihres Leibes trieben. »Schwöre es, Giure, und ich zeige dir meine Welt und mein Leben in der Mühle, und du wirst verstehen, was in jener Nacht geschehen ist. Wir bringen den Menschen nur Gutes.«
»Ich schwöre es, Scylla.«
Dieses Mal zog sie ihn mit sich. »Dann folge mir.«
Sie erreichten die Mühle am frühen Nachmittag.
Scylla war gleich aus mehreren Gründen aufgeregt. Sie war Giure nahe wie niemals zuvor, würde ihm ihre Welt zeigen und war gespannt, auf welche Weise er darauf reagierte. So geriet das, was geschehen sollte, gleichzeitig zu einem Experiment. Karol war der Meinung, dass das einfache Volk ihre Arbeit falsch oder gar nicht verstünde, sie
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