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Kinder des Judas

Titel: Kinder des Judas Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Markus Heitz , Markus Heitz
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Grunde wäre nichts dabei gewesen, seinem Bitten nachzugeben. In der Vergangenheit hatte ich wegen Geld und Ansehen mit so vielen Männern geschlafen, wieso sollte ich mich ausgerechnet meinem Lebensretter verweigern?
    Doch ich mochte ihn auf eine Weise, die jeden Gedanken an leidenschaftliche Spiele in den Laken erstickte. Damals wusste ich nicht, warum ich so empfand.
    Der Tag der Cognatio kam, und mein Erscheinen war ein einziger Triumph. Ich zog unter den freundlichen Augen von Lydia Metunova in die Runde ein und prägte mir die Gesichter derjenigen ein, die damals gegen mich gestimmt hatten. Mein Lächeln verströmte Freundlichkeit, meine Worte zeigten meine Ehrfurcht vor der Cognatio, und ich redete über Ehre, Tradition und Verpflichtung.
    In Wahrheit dachte ich nur daran, wie ich sie töten konnte, auch wenn ich von nun an eine von ihnen war. Ich dachte an den Bruderkuss …
    In den nächsten Jahren widmete ich mich noch intensiver der Forschung und den Experimenten. Lydia hatte eine neue Elevin erwählt, Elisa, die sie mir vorstellte. Ein liebes, blondes Ding, das ich jedoch niemals so wie Eleonora ins Herz schließen sollte. Lydia und ich trafen uns sehr oft, die Gespräche wurden im Verlauf der Zeit offen und herzlich. Die Frau, die ich als so kalt und grausam empfunden hatte, wurde meine Freundin. Vielleicht war auch dies ein Zeichen dafür, wie sehr ich mich veränderte.
    Ich schwor wie verlangt dem Blut ab und stellte bald fest, dass mich der Verzicht härter traf, als ich gedacht hatte, und meiner Willenskraft mehr abverlangte. Ich hatte Angst davor, die Beherrschung zu verlieren und über ein Dorf herzufallen. Nicht, dass mich das Leid der Menschen gekümmert hätte, aber siehätten sich auf die Suche nach dem Schuldigen gemacht und unter Umständen mein neues Heim entdeckt.
    Da es jedoch nicht verboten war, sich von Tierblut zu ernähren, hielt ich mir in einem der Räume eine große Zahl von Ratten, an denen ich mich gütlich tat, wenn der Durst zu groß wurde. Wenn man darauf achtete, dass sie sauber blieben und das Richtige als Nahrung erhielten, schmeckten sie nicht schlecht.
    Dennoch gab es dieses Verlangen nach dem Lebenssaft der Menschen. Keiner von uns konnte es verleugnen. Es baute sich im Verlauf eines Jahres immer mehr auf, wie ein beständiges Rinnsal zu einem strömenden Fluss anwächst, bis er an einen Damm gerät. Und gleich einem Fluss reißt das Bedürfnis jegliche Schranke ein.
    Bei mir führte es dazu, dass ich mir meist zur Erntezeit im Sommer, wenn es viele Menschen auf den Feldern gab, meine Opfer holte und mich satt trank. Die Toten markierte ich mit unserem Zeichen, der lateinischen Zahl Dreißig. Es sollte uns daran erinnern, dass wir Verrat an Judas’ Verbot des Blutes begangen hatten, und ihn allen offenbaren.
    Einen Menschen zu töten war eine Sünde.
    Ich beging sie jedes Jahr voller Freude.
    Es gab kein vergleichbares Gefühl damit, über Männer, Frauen und Kinder herzufallen, sie mit einem einzigen Biss zu töten und das warme Blut frisch in den Mund sprudeln zu lassen. Ich war mir sicher, dass es allen in der Cognatio so erging.
     
    Ich hätte wissen müssen, dass Marek sich durch meine freundliche Ablehnung seiner Avancen früher oder später verändern würde.
    Jahrelang lebten wir in Harmonie in der Mühle, die er nur selten für ein paar Wochen verließ, um seinen eigenen Besitztümern einen Besuch abzustatten, und ich durfte sehr viel vonihm lernen. Dann aber entstanden immer deutlichere Spannungen. Seine selbstherrliche Art machte es mir schwer, ihn weiter zu mögen. Er wiederum gab mir das Gefühl, in vielerlei Hinsicht undankbar zu sein.
    Dann, im Verlauf eines Besuchs von Lydia, erfuhr ich etwas, was alles verändern sollte.
     
    11. November 1723
Osmanisches Tributland
     
    Scylla und Lydia saßen in der Bibliothek bei einer Tasse Tee und plauderten über scheinbar harmlose Dinge. Es klang ungezwungen, doch Scylla hatte sofort gespürt, dass es einen anderen Grund gab, weswegen die gute Freundin bei ihr erschienen war. Es erstaunte sie, denn die Baronin war nie verlegen, eine unangenehme Wahrheit, ohne mit der Wimper zu zucken, auszusprechen; also fragte sie nach.
    Lydia fühlte sich offenbar ertappt. Sie stellte die Tasse ab und strich über die Falten ihres dunkelgelben Kleides, das einen Kontrast zu Scyllas hellrotem bildete; beide Frauen trugen ihre verzierten Perücken. »Ich kann wohl keine Geheimnisse vor dir haben«, sagte sie nach einer Weile und

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