Kinder des Judas
Schlitten nach, dann sorgte sie dafür, dass ein plötzlicher Wind die Spuren verwehte, die zur Mühle führten. Niemand sollte wissen, dass sie Besuch erhalten hatte.
Als sie in die Bibliothek zurückkehrte, sah sie Marek am Schreibtisch stehen. Er hatte das Buch mit den Aufzeichnungen des Vaters in der Hand und blätterte gleichzeitig in ihren Übersetzungen. Er suchte nach etwas, ungebeten und unerlaubt. Der Anblick machte sie wütend.
Marek bemerkte sie und legte lächelnd die Unterlagen hin. »Du bist weit gekommen, Scylla.«
»Wieso hast du es mir nicht gesagt?«, fragte sie und verbarg ihre Gefühle nicht.
Er setzte sich in den Sessel und schlug die Beine übereinander. »Was habe ich dir nicht gesagt?«
Sie spürte noch mehr Zorn aufsteigen. »Dass wir den gleichen Vater haben, Marek!«
Nun verlor er doch seine Gesichtsfarbe. »Metunova hat es dir …«
»Jawohl, Marek. Aus Versehen, weil sie glaubte, ich wüsste es – so wie alle anderen in der Cognatio.« Sie verspürte den dringenden Wunsch, ihn zu schlagen und ernsthaft zu verletzen. Sie sah in seine veilchenfarbenen Augen, um seine Gedanken zu ergründen. Er hatte sich inzwischen wieder ein Lächeln abgerungen, das jedoch ohne Wirkung auf sie blieb. »Du wärst tatsächlich mit mir ins Bett gestiegen und hättest mit mir geschlafen«, sagte sie fassungslos. Mit jedem Wort, das sie laut aussprach, bekam die ungeheuerliche Wahrheit schärfere Klingen, die jede Zuneigung für ihn aus ihrem Herzen schnitten. »Kennst du keine Scham?«
Marek stand auf und versuchte, ihre rechte Hand zu ergreifen. »Ich liebe dich, Scylla …«
»Wie ein Bruder seine Schwester liebt, doch mehr darfst du nicht«, schrie sie ihn an und stieß ihn zurück, so dass er gegen den Tisch rempelte. »Du
wusstest
es! Du wolltest mich dennoch, Marek!«
»Ja«, gestand er trotzig und erhob sich. »Ich wollte dich, seit ich dich zum ersten Mal in Gruža gesehen habe. Ich habe dich vor den Türken gerettet, und ich habe dich damals vor dem Umbra bewahrt, indem ich die Klappe verriegelte …«
»Du? Du bist auch in der Bibliothek gewesen?« Ihre Augen richteten sich auf die eigenen Unterlagen. »Du hast Vater für deinen Baron ausspioniert …«
»Nein! Ich wollte dich heimlich sehen und kam dazu, als der Umbra sich in die Mühle schlich«, fiel er ihr ins Wort. »Bitte glaub mir, Scylla, ich liebe dich. Und das werde ich immer tun. Wir sind keine einfachen Menschen, Scylla, wir sind Kinder des Judas. Die Gesetze der Sterblichen gelten nicht für dich und mich.«
»Und doch werde ich dich niemals lieben!« Sie packte ihn am Ärmel und zerrte ihn zum Ausgang. »Verschwinde«, wisperte sie zornig. »Von heute an sehe ich dich mit anderen Augen.«
Marek riss sich los. »Du jagst
mich
fort?«
»Das wäre schon viel früher geschehen, hätte ich von deiner Niedertracht gewusst«, knurrte sie. Sie funkelte ihn bedrohlich an und warnte ihn davor, weitere Worte zu verlieren. Scylla stand kurz davor, ihn anzugreifen, so sehr war sie außer sich geraten. Keine Beteuerungen würden seine Lage verbessern.
Er wandte sich der Tür zu. »Das war nicht das letzte Wort zwischen uns beiden«, versprach er eisig, öffnete sie und drehte sich dann noch einmal zu ihr um. »Auf Dauer kann es keine Feindschaft zwischen uns geben, Scylla. Wir sind trotz des Zwists Bruder und Schwester.«
»Das mag bei den Menschen so sein,
Bruder
«, sagte sie mit kalter Stimme, mit der sie ihre ohnmächtige Wut mühsam überspielte. »Aber wie du gerade selbst sagtest: Die Gesetze der Sterblichen gelten nicht für uns.«
21. Dezember 2007
Deutschland, Sachsen, Leipzig, 04.59 Uhr
Von diesem Tag an fühlte ich mich immer unwohler bei den Zusammenkünften der Cognatio – auch, weil ich Marek dort nicht aus dem Weg gehen konnte.
Lydia gab mir in diesen schwierigen Zeiten Halt und Freundschaft, die zu meiner eigenen Überraschung bald in etwas Tieferes überging. Wir fühlten uns nicht nur im Geiste zueinander hingezogen, und in manchen Nächten gab ich ihrem sanften Werben nach.
Lydia war ganz anders, einfühlsamer und zärtlicher als jeder Mann, mit dem ich zusammen gewesen war, und ich schwelgte in Lust und Gefühlen wie niemals zuvor. Ich genoss ihre Aufmerksamkeiten sehr.
Waren Lydia und ich ein Liebespaar? Nein, so verstanden wir uns nicht. Wir waren Freunde, die sich gegenseitig trösteten und verwöhnten.
In ihren Armen fand ich zum ersten Mal die Sicherheit und Wärme, die ich seitdem so oft
Weitere Kostenlose Bücher