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Kinder des Judas

Titel: Kinder des Judas Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Markus Heitz , Markus Heitz
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Knie, das er einem Pferdetritt verdankte, wäre er sicherlich Offizier in der Armee geworden und hätte fremde Länder erobert. Ausgerechnet ein Tier, das er abgöttisch liebte, hatte seine Träume zerschmettert.
    Den Westen hatte er jahrelang an der Seite seines Vaters bereist, sie waren von Kaufmann zu Kaufmann gezogen; er kannte alle großen Städte des Abendlandes, von Moskau über Venedig bis Porto.
    »Wahres Neuland«, sagte er leise und schritt zum Tischchen, um sich ein weiteres Mal die Journale und Schriften anzuschauen. Er hatte sie längst alle mehrmals gelesen.
    Die Menschen wurden in den Aufzeichnungen als strenggläubig dargestellt, zugleich aber schienen sie sehr abergläubisch und von einfacher Natur zu sein. Passend für Eroberer. Die Sprache würde das größte Problem werden, D’Adorno musste ihm einen Übersetzer mitgeben.
    Viktor zog das illustrierte Flugblatt hervor, das ihn neugierig gemacht hatte:
lebendige Tote!
Dieses Wunder wollte er mit eigenen Augen sehen.
    Das Blatt sprach von einer »entsetzlichen Begebenheit, welche sich in dem Dorfe Kisolova, unweit Belgrad in Ober-Ungarn, vor einigen Tagen zugetragen«. Das Bild zeigte einen Mann, der auf einer Frau lag und die Zähne in ihre Brust grub.
    Viktor kannte den Inhalt auswendig. Zehn Wochen nach dem Tod eines gewissen Peter Plogojowitz starben neun Menschen nach einer mysteriösen vierundzwanzigstündigen Krankheit. Allesamt hatten sie kurz vor ihrem Tod ausgesagt, dass jener Plogojowitz sie nachts im Schlaf besucht und sie gewürgt hätte. Seine Witwe verließ sogar das Dorf, nachdem ihr Mann bei ihr erschienen war; auch die anderen Bewohner wollten gehen, aus Angst, der ,,böse Geist« könnte das ganze Dorf zerstören, und so lange wollten sie nicht warten. Ein Verwalter namens Frombald reiste auf eindringliche Bitten hin selbst nach Kisolova und wohnte zusammen mit dem Popen der Exhumierung bei.
    Viktor las halblaut, was der kaiserliche Beamte anmerkte und was ihn so faszinierte: »Mit Ausnahme der Nase erschien der Körper des Toten frisch, der Verwesungsgeruch fehlte. Haare, Bart und Nägel waren neu gewachsen, die alte Haut hatte sich geschält, und neue war darunter entstanden. Im Mund der Leiche sah man Blut. Die aufgeregten Dorfbewohner durchstachen das Herz mit einem Pfahl, und frisches Blut floss aus der Wunde, aus dem Mund und den Ohren. Sogenannte wilde Zeichen waren deutlich an dem Toten zu erkennen; danach verbrannten sie die Leiche.«
    Viktor senkte das Blatt. Er hatte zuerst nicht gewusst, was
wilde Zeichen
bedeuteten, dann jedoch herausgefunden, dass der Vampir eine Erektion gehabt hatte, was bei einem Leichnamwiederum als Hinweis für dämonisches Treiben im Körper angesehen wurde. Was tot ist, hatte sich nicht aufzurichten.
    Geschehen war dieser Vorfall bereits 1725. Viktor selbst hatte damals nichts davon gehört, vielleicht weil er noch zu klein gewesen war. Doch jetzt nahm ihn diese Merkwürdigkeit gänzlich gefangen.
    »Lebende Tote«, murmelte er gebannt. »Ich bin sehr gespannt, was an diesen Dingen Wahres zu finden ist.« Er raffte die Schriften zusammen und hinkte die Treppe hinauf ins Schlafzimmer. Er wollte sie vorsichtshalber noch einmal lesen.
    Hier bot sich die Gelegenheit, die niemals verloschene Wissbegier aus seinen Studienzeiten mit der Tradition der Kaufmannsfamilie zu verbinden. Für die Tradition hatte er sein Studentenleben widerwillig aufgegeben, und jetzt kam es ihm letztlich doch zupass. Fügung, nannte man das.
     
    10. Dezember 1731
Belgrad, Regierungssitz der Habsburger
in den eroberten osmanischen Gebieten
     
    Viktor las unermüdlich. Die Bücher über die eroberten Gebiete mit den seltsamen Namen hielten ihn gefangen; selbst das Geschaukel der Kutsche beirrte ihn nicht. Eine Obsession solchen Ausmaßes war ihm selbst fremd.
    In der wenigen Zeit, in der er nicht las, waren seine Gedanken bei Elvira. Sie war verheiratet gewesen, doch ihr Herz gehörte ihm allein. Mehr als einmal hatten sie mit dem Gedanken gespielt, nach Amerika zu flüchten und gänzlich neu zu beginnen. Vermögen besaßen sie beide genügend.
    Dann war sie eine knappe Stunde vor einem Treffen mit ihm die Treppe hinabgestürzt, eine harmlose, achtstufige Treppe. Dennoch genügte das, um Elvira das Genick zu brechen.
    Seitdem war seine Welt grau. Es würde kein neues Leben mit Elvira geben, kein eigenes Kontor und kein Leben im Stil eines Edelmannes. Die hochfliegenden Pläne waren Vergangenheit, zerstört durch so etwas

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