Kinder des Judas
Liebespaar passen können. »Hattest du eine angenehme Reise?«
»Ja. Die Österreicher ließen mich in Ruhe. Sie sind ansonstenja beinahe überall. Schlimmer als jede Landplage«, erwiderte sie lächelnd.
Scylla nahm ihr den Mantel ab und bat sie nach unten in die Bibliothek. »Etwas zu trinken?«
»Ich nehme einen heißen Gewürzwein, wenn es dir nichts ausmacht.« Lydia trug ein bodenlanges schwarzes Kleid, das gegen die Kälte hochgeschlossen war; der Kragen war ein weißer Pelz, und auf dem Kopf trug sie, im Gegensatz zu Scylla, ihre weiße Perücke.
»Ganz und gar nicht.« Mit raschen Handgriffen setzte Scylla Wein in einem Topf auf den Herd und gab nacheinander Honig, Nelken, Zimt und Pfeffer hinzu, zusätzlich etwas Muskat.
Lydia stand halb auf der Treppe. »Siehst du nun, weshalb ich in einem Schloss wohne und Diener habe?«, neckte sie.
»Da habe ich auch einst gewohnt, bis mich die Diener umbringen wollten, liebste Freundin.« Scylla lachte. »Lieber lebe ich allein, doch dafür sicher.« Die glühende Herdplatte schaffte es, den Alkohol sehr rasch zu erhitzen, die Zubereitung würde nicht viel Zeit in Anspruch nehmen.
»Das würden meine Diener niemals wagen. Sie sind mir alle verfallen«, erwiderte Lydia und ging die Rampe nach unten. »Sie vertrauen mir blind.« Sie lachte.
Nicht lange danach folgte Scylla mit einem Tablett, auf dem zwei Gläser mit Gewürzwein und eine Schale Gebäck standen. Sie fand Lydia am Schreibtisch vor, und so, wie sie saß, hatte sie keinen Blick auf die Unterlagen geworfen, obwohl es ihr erlaubt gewesen wäre. Niemand sonst in der Cognatio besaß derlei Respekt vor fremden Gedanken wie Lydia.
»Bitte sehr.« Scylla reichte ihr ein Gefäß, stellte das Naschwerk ab und setzte sich neben sie. Sie stießen miteinander an, sahen sich in die Augen und lächelten sich zu.
»Was gibt es Wichtiges, dass du mich unbedingt vor der Versammlung sehen möchtest?«
Scyllas Blick richtete sich auf die Papiere, das Vermächtnis ihres Vaters. »Karol hat mir etwas hinterlassen.« Sie nahm ihre Übersetzung zur Hand. »Vielleicht war es auch für Marek gedacht, denn es scheint, dass er einiges davon weiß, was ich in den Aufzeichnungen fand. Es kann sein, dass Karol zuerst mit meinem Halbbruder darüber gesprochen hat.«
Lydia sah auf die beschriebenen Blätter. »Was ist es? Forschungserkenntnisse werden es nicht sein, wenn ich den Ausdruck in deiner Stimme und in deinen Augen richtig deute.«
»Die Lügen, liebe Freundin«, Scylla trank von ihrem Wein, »haben ein Ende.«
»Die
Lügen?«
Scylla stellte das Glas ab. »Die Lügen darüber, dass wir von Judas Ischariot abstammen. Dass wir besser sind als die Upire. Dass wir dem Christentum zu seiner Größe verholfen haben – das
alles
ist Unsinn«, erklärte sie. »Mein Vater hat, als er vor vielen Jahren selbst mit dem Gedanken spielte, sich zum Ischariot machen zu lassen, Nachforschungen angestellt. Er hatte eigentlich angenommen, noch mehr über die Größe der Kinder des Judas herauszufinden, doch er stieß auf Beweise, die
gegen
unsere edle Geheimgesellschaft sprechen.«
Lydia hörte gebannt zu. »Was genau meinst du damit, meine Liebe?«
»Unser Urvater hieß nicht Judas Ischariot und lebte auch nicht an der Seite von Jesus Christus. Nein, sein Name hatte einen weitaus schlichteren Klang. Er war ein Ungar, Horge Kasparzek.« Scylla lachte auf. »Vater reiste in seine Heimatstadt und fand sein verlassenes Laboratorium. Man stelle sich vor: Er war zu Lebzeiten ein reicher, mächtiger Kaufmann sowie Alchemist und hatte nicht vor, diese Macht nach seinem Tod zu verlieren.« Scylla zeigte auf die Bibliothek. »Einige dieser Bücher stammen von dort.«
Lydias Augen wurden größer, sie trank ihren Wein auf einen Schlag leer und musste husten. »Ist das sicher?«
Scylla goss ihr nach und nickte. »Vater hat mir in seinen Aufzeichnungen Hinweise hinterlassen, in welchen Werken ich mehr über Kasparzek finde.« Sie ergriff Lydias Hand. »Und es stimmt alles! Wir mögen gebildet sein und kultiviert, doch letztendlich sind wir nichts anderes als Upire, die in den vergangenen Jahrhunderten einem Ammenmärchen und einem Betrug aufgesessen sind.«
Lydias Gesicht verzog sich voller Abscheu. »Wir haben nichts mit denen gemein, die in den Gräbern liegen und sich nachts in die Häuser stehlen, Scylla. Sie vermögen ein bisschen Blendwerk zu tun, um die menschlichen Sinne zu verwirren oder in Angst und Schrecken zu versetzen,
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