Kinder des Judas
noch mehr in seine Nachforschungen gestürzt und schrieb alles auf, was er herausfand, und sandte Briefe nicht nur nach Berlin an seinen ehemaligen Professor, sondern auch an andere Gelehrte, von denen er gehört hatte. Gleichzeitig musste er sich immer neue Geschichten für seinen Vater ausdenken, um diesem zu erklären, warum er sich noch nicht um die neuen Handelswaren kümmern konnte. Einzig die Nachrichten an seine Verlobte Susanna hielt er knapp. Sie hätten auch nur flüchtige Bekannte sein können, nach mehr klang es nicht.
»Noch mehr Briefe?«, meinte Vater Ignaz am frühen Morgen, als er das Frühstück zubereiten wollte und Viktor bereits schreibend am Tisch vorfand. »Sie haben doch nicht die ganze Nacht über hier gesessen?«
Er nickte und fuhr sich mit der Linken über die Augen. »Doch, Vater. Ich musste mir meine Eindrücke von der Seele schreiben und gleichzeitig der Wissenschaft Einblicke in das gewähren, was in Medvegia geschieht.« Viktor legte den Federkiel zur Seite und lehnte sich auf dem Stuhl zurück. »Haben Sie noch von diesem Kaffee?«
»Nein. Sie haben mir meine letzten Vorräte weggetrunken.«
»Dann senden Sie einen Boten nach Jagodina und lassen Siemehr davon beschaffen. Er bringt das Herz zwar unerfreulich zum Rasen, doch er hält den Geist unglaublich wach.« Viktor nahm seine Börse und legte einige Münzen auf den Tisch. Seine Mittel schwanden allmählich, weil er die vielen Eilboten bezahlt hatte, die seine Briefe nach Berlin und in die Lausitz trugen; er würde seinen alten Herrn um eine Aufstockung bitten müssen, ohne einen einzigen Pelz gekauft zu haben. »Das sollte genügen, nehme ich an.«
Der Pope brühte Kräutertee auf und setzte sich danach Viktor gegenüber. »Ich mache mir Sorgen um Sie, Herr von Schwarzhagen.« Er zeigte auf die Berge von beschriebenem Papier. »Etwas in dieser Art habe ich noch nie erlebt.« Ignaz schob ihm den Teller mit Brot, Wurst und Käse hin. »Ihre besessene Arbeit hat Sie Gewicht gekostet, Ihre Lippen sind spröde und rissig. Geben Sie auf sich acht, Herr.« Er nahm sich eine Tasse. »Wäre es nicht besser, Sie würden weiterreisen und sich um die Pelze kümmern, wie es Ihr Vater von Ihnen verlangt hat? Am Ende haben Sie bei den Jägern das Nachsehen …«
»Es wird immer Tiere zum Jagen geben«, wehrte Viktor ab und betrachtete das Essen. Er verspürte keinen Appetit. »Doch das hier, Vater, ist etwas Einmaliges! Lebende Tote, und
ich
bringe die Kunde darüber in allen Einzelheiten hinaus in die Welt.« Er grinste und fuhr sich durchs Haar, das sich fettig und klebrig anfühlte. »Aber ich gestehe, dass ich die Pflege meines Körpers vernachlässigt habe. Wäre es wohl möglich, dass ich hier irgendwo ein Bad nehmen könnte?«
Ignaz nickte. »Ich lasse es herrichten. Es gibt einen großen Zuber, den wir normalerweise bei Schlachtungen benutzen. Er ist sauber, jedenfalls größtenteils, und wenn es Sie nicht stört, auf ein paar vorbeitreibende Schweineborsten zu treffen, steht dem Vergnügen nichts im Weg.«
»Tun Sie das. Das wäre sehr nett.« Viktor erhob sich, nahm sein Büchlein, das Federetui und das Tintenfass. »Lassen Siemich rufen, wenn es so weit ist, und denken Sie an den Kaffee. Ich bin bei den Zingaros.«
Ignaz fragte nicht weiter nach, er wusste, was Viktor beim fahrenden Volk wollte: weitere Nachforschungen anstellen. »Dass sie vom Heyducken gerufen wurden und ich mich ihrer bediene, bedeutet nicht, dass man ihnen vertrauen kann.«
»Sie erledigen die Arbeit, an die sich die Menschen im Dorf nicht heranwagen. Ich weiß.« Viktor warf sich den Mantel über, griff seinen Stock und hinkte zur Tür hinaus ins verschneite Medvegia. Er folgte der Straße bis zum Dorfrand, wo die Zingaros ihr Lager aufgeschlagen hatten.
Große und kleine Zelte reckten sich empor, woanders waren Planen an den im Kreis aufgestellten neun Wagen befestigt und mit Schnüren abgespannt. Im Innenbereich der Wagenburg sprangen Hunde bellend umher, das Gackern von Hühnern und Kinderlachen erklangen; aus den kleinen Ofenrohren, die aus den Dächern ragten, quoll dichter dunkler Rauch, der sich mit dem Geruch von Essen mischte.
Viktor näherte sich dem ersten Wagen und klopfte gegen die Seitenwand, und sofort zeigte sich ein Frauengesicht hinter der verdreckten Scheibe über ihm. »Ich suche Libor«, rief er ihr entgegen. »Wo kann …«
Die Frau verschwand, dann erklang ein lautes »Libor« gefolgt von einem Redeschwall, in dem mehrmals das
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