Kinder des Judas
Ischariot brachte ihn mit einer Geste zum Schweigen. »Das, was Euer Vater entdeckt zu haben glaubte, muss nicht der Wahrheit entsprechen«, gab er zu bedenken.
»Jedes einzelne Wort ist wahr«, hielt sie dagegen. »Er war in Kasparzeks Geheimarchiv und fand genügend Beweise. Wir stehen auf der gleichen Stufe wie die Upire und sind Dämonenwerk. Einige von Euch mögen daran glauben, dass sie Gutes tun – doch die meisten wissen sicher so genau wie ich, dass unsere Forschung ursprünglich niemand anderem dienen soll als uns.« Scylla fühlte sich unglaublich erleichtert, als sie es offen aussprach. »Diesem Ziel widme ich mich nicht länger.Glaubt, was Ihr wollt, Baroninnen und Barone. Lügt Euch weiter etwas über Judas und Eure Abstammung vor, aber ich gehöre nicht mehr dazu!« Ihre Haltung war kämpferisch, ihre Muskeln angespannt, um auf einen Angriff reagieren zu können. Vor allem Tomsky ließ sie nicht aus den Augen. »Ich werde gehen.« Langsam wandte sie sich um und schritt auf den Ausgang zu. Sie betete, dass sie jetzt Schritte vernehmen und Lydia an ihrer Seite wiederfinden würde, doch sie hörte nichts. Die Freundin verblieb in der Runde der Cognatio.
»Baronin, stimmt es, dass Euer Vater ein Mittel gegen unsere Sterblichkeit gefunden hat?«, traf sie die Stimme des Ischariot in den Rücken.
Scylla blieb stehen. Marek hatte demnach doch mit jemandem darüber gesprochen. »Wenn es so wäre?« Absichtlich benutzte sie nicht mehr die Anrede, die ihm gebührte. Aus ihrer Sicht gehörte sie bereits nicht mehr dazu.
»Hätten wir sehr wohl ein Anrecht darauf, es zu erfahren, bevor Ihr uns verlasst.«
»Da mein Vater Euch nichts davon erzählte, halte ich es wie er. Aus den gleichen Gründen.« Sie wandte sich zur Cognatio. »Wir sollten vergehen, weil wir für die Menschen ebensolche Schädlinge sind wie die Upire. Einmal im Jahr fallen wir über sie her, ein Dutzend, zwei Dutzend Opfer und mehr werden aus dem Leben gerissen, wenn uns der Blutdurst überkommt. Wir leben ohnehin länger als die meisten Upire, warum dann noch nach Unvergänglichkeit streben? Aus Angst vor der Hölle und dem Dämon, der unsere Seelen erhalten wird?« Sie streckte sich. »Kennt einer von euch überhaupt unseren wahren Herrn? Was ist das für ein Dämon, dessen Zeichen wir auf unserer Haut tragen?«
»Bring sie doch jemand zum Schweigen!« Tomsky sah zum Ischariot, und Scylla bemerkte den Rand seines eigenen roten Males, das sonst sorgsam durch den Hemdkragen verborgen wurde. »Geschwätz über Dämonen …«
Der Ischariot wies ihn an, still zu sein. »Es gibt keinen Dämon, Scylla«, sagte er mit Nachdruck. »Euer Vater ist bei seinen Nachforschungen auf ein Trugbild hereingefallen. Seht dieser Wahrheit ins Gesicht und bleibt bei uns. Stützt die Gemeinschaft durch Euer Wissen!«
»Niemals. Ich vertraue den Worten meines Vaters!« Scylla nahm empört Haltung an. »Ich habe niemals darum gebeten, zu einer Upirina gemacht zu werden und nach meinem Tod meine Seele zu verlieren. Ich schulde Kasparzek keinen Dank dafür, dass er mich zu einer Verdammten gemacht hat. Darüber sollten alle in der Cognatio nachdenken.«
Der Ischariot betrachtete sie kalt. »Händigst du die Formel freiwillig aus?« Er verzichtete ihr gegenüber nun auf jeglichen Respekt.
Sie verneinte, und ein Keuchen ging durch die Versammlung; sogar Lydia konnte einen Laut der Enttäuschung nicht unterdrücken. »Die Formel wurde vernichtet, damit keiner auf den Gedanken kommt, mich in meiner Mühle heimzusuchen«, offenbarte sie und sah zu Carzic. »Erspar es mir, die Umbrae, die du schicken würdest, zu töten.« Scylla blickte ein letztes Mal zu Lydia, die sie entgeistert anschaute, dann wandte sie sich zum Gehen und öffnete die Tür, während hinter ihr vielstimmiges Geschrei erklang.
Todesdrohungen und -forderungen hallten ihr nach, die Scylla nicht mehr schreckten. Mit jedem Schritt, den sie machte, und mit jeder Tür, die sie hinter sich schloss, wurden sie leiser und leiser.
Was sie hatte sagen wollen, war ausgesprochen worden, und von nun an würde sie ein freies, wenn auch gefährliches Leben führen. Den Zwängen eines Ischariot und einer verkommenen Geheimgesellschaft unterlag sie nicht mehr.
Es würde nichts anderes mehr für sie geben als die Forschung nach Heilmitteln und den regen Gedankenaustausch mit denbrillantesten Gelehrten und Wissenschaftlern der Menschen. Das reizte sie. Sie würde ihnen gerne bei der Suche nach Maßnahmen gegen
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