Kinder des Judas
unter Kontrolle gebracht, dass es nur noch eine Linie gab. Du hast die eine weiterleben lassen, deren Kinder die größte Ähnlichkeit mit dir und deinem kleinen Menschen hatten, habe ich recht?« Er applaudiert leise. »Mein Kompliment dafür, wie du dich durch die Jahrhunderte bewegt hast, ohne denArgwohn der Menschen auf dich zu ziehen. Eine Meisterin der Manipulation.«
»Ich hatte Vertraute, die mir beistanden.
Freunde
. So etwas kennst du nicht«, spotte ich.
»Vermutlich, Schwester. Danach habe ich deine Spur verloren … Verrätst du mir, was du die letzten einhundertsieben Jahre gemacht hast?« Marek lehnt sich gegen die Wand und schaut hinaus.
Nein, ich werde es ihm nicht sagen.
Weder dass ich nach Leipzig ging und dort heiratete, ohne jedoch noch einmal Liebe zu empfinden, noch dass ich im Lauf der Jahrzehnte so viele meiner eigenen Kinder tötete. Dass ich ein Restaurant eröffnete und es am Ende des Zweiten Weltkriegs gegen die Russen verteidigte.
Dass ich die DDR überstanden habe, in der nicht alles schlecht, doch vieles nicht gut war.
Oder dass ich 1968 die Identität eines meiner toten Kinder angenommen habe: Theresia. Theresia Sarkowitz.
So habe ich es immer gehalten: mich als meine eigene Tochter ausgegeben, angeblich die Papiere verloren, neue beantragt …
»Na, schön. Behalte es für dich.«
»Warum soll ich mich nicht verwandeln und davonfliegen, Bruder?«, frage ich leise. »Ich kann dich einfach zurücklassen und von oben betrachten, wie sie dich in Fetzen reißen.«
»Sie würden dich verfolgen, Scylla. Der Abschaum würde nicht eher von dir ablassen, bis sie dich ebenso tot wüssten wie mich«, entgegnet er und zeigt hinaus. »Sie kommen, Schwester. Ich bin gespannt, was sie sich einfallen lassen.«
Er geht unter die Wendeltreppe und zieht eine alte Plane hervor. Als er sie aufschlägt, kommen darin vier Damaszenersäbel zum Vorschein. Zwei legt er auf den Tisch, die anderen behält er in den Fäusten.
»Sie sind von einem orthodoxen Popen und von einem katholischen Priester geweiht worden. Damit dürften wir auf der sicheren Seite stehen. Ich gehe nach oben, du empfängst sie hier unten.« Er hebt die Klingen an, und der verzierte Wellenstahl bekommt einen orangefarbenen Schimmer. »Wir werden sie besiegen, Scylla.« Er steigt die Treppe hinauf und verschwindet.
Es wird still, ich bin mit meinen Gedanken allein. In der Ecke liegt der junge Mann, den Marek mir mitgebracht hat. Mein Mahl. Mein falscher Viktor.
Ich sehe die Nacht vor mir, in der die Dörfler erschienen waren, um meinen Vater zu töten. Eine ebenso große Übermacht, gegen die er machtlos war.
Ich habe noch immer keine Furcht. Meine Augen richten sich auf die beiden Säbel. Archaisch, altmodisch im Zeitalter von Schnellfeuerwaffen, Granaten und Satellitennavigationssystemen.
Meine Gedanken schweifen ab, weil ich Irinas Worte über die Vampire noch im Ohr habe. Wie viele Vampire existieren auf dem Balkan? Haben die vielen Kriege der Menschheit sie dezimiert? Sind sie untergetaucht und warten auf andere Zeiten und neue Dämonen, denen sie dienen können? Oder haben ihnen die Kriege die Deckung verschafft, die sie benötigt haben, um sich am Menschenblut zu laben? Der Glaube an sie hat überlebt, da bin ich mir sicher. Und solange es einen Glauben an etwas gibt …
Schritte nähern sich der Tür, ich höre Stimmen und leise Beratungen.
Ein Falter flattert durch die Fensterritze, gleich darauf klettert eine schwarze Spinne flink herein und drückt sich eng in die Fugen. Sie schicken ihre Spione.
Ich blicke wieder auf die Säbel. Sie sind osmanischer Herkunft, uralt, doch tadellos gepflegt. Früher haben sie zweifelloseinem Janitscharen im Kampf gedient und die Feinde des Sultans niedergemäht.
Meine Lippen öffnen sich und wollen denen vor der Tür sagen, dass ich kein Interesse an einem Kampf habe und dass ich mich zurückziehen werde, wenn sie mich gehen lassen. Aber der Satz existiert lediglich in meinem Gehirn, denn eine zweite Macht ist in mir aufgetaucht und hält ihn zurück.
Es ist das gleiche aufkommende Gefühl wie vor wenigen Tagen, als ich gegen den Vampir im Ring bestehen musste.
Erliege ich mit jedem Herzschlag wieder ein Stück mehr der Hybris, die ich so lange unter Kontrolle gehalten habe?
Meine Arme heben sich, die Hände legen sich auf die Tischkante und sind wenige Zentimeter von den Waffen entfernt. Mehr Falter und Spinnen dringen in die Mühle ein, kriechen und schwirren um mich herum;
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