Kinder des Judas
wundere mich. Eigentlich ist es so gar nicht sein Revier, also kann es nur eines bedeuten: der Rückfall. Ein Motorröhren, die Hayabusa spreizt die Schwingen und jagt durch die enge Lücke zwischen zwei unsicher über den festgefahrenen Schnee kriechenden Autos. Mein flatternder Ledermantel verfängt sich in einem Außenspiegel und reißt ihn ab; ich haltedem Ruck stand, ohne ins Schleudern zu geraten. Darauf kann ich keine Rücksicht nehmen, einen Stopp wird es nicht geben, bevor ich das Denkmal erreicht habe.
Ich bringe den Falken auf der Anhöhe vor dem Monument zum Stehen. Mein PDA verrät mir, dass Lobitsch sich links von mir aufhalten muss, vermutlich in dem kleinen Souvenirshop.
Ich könnte mich ohne Probleme dorthin begeben und ihn im Auge behalten, denn er kennt mich nicht. Niemand von meinen Sorgenkindern, denen ich meine volle Aufmerksamkeit zuteil werden lasse, weiß von mir. Bis zum Schluss. Doch vielleicht wird der Raum von einer Kamera überwacht, und ich möchte nicht, dass er und ich miteinander in Verbindung gebracht werden.
Warten.
Abwechselnd schaue ich auf meinen PDA, dann wieder auf den Ausgang des Ladens. Das Signal bewegt sich nicht. Lobitsch trinkt bestimmt einen Kaffee oder wärmt sich sonst irgendwie auf. Zehn Minuten. Zwanzig. Dreißig. Lobitsch bleibt, wo er ist.
Ich steige von der Hayabusa, rutsche den verschneiten Hügel hinunter und schlendere den Weg entlang, der um den rechteckigen Weiher am Fuß des Denkmals führt. Trotz der Kälte und der Dunkelheit kommen mir immer noch einige Besucher entgegen, doch man sieht ihnen an, dass sie nach Hause möchten, in die Wärme ihrer Wohnungen oder Hotelzimmer. Ich bin noch geschätzte zehn Meter von dem Shop entfernt, als Lobitsch herauskommt, am Arm eine dunkelhaarige Frau, mit der er offensichtlich scherzt und lacht. Sie wirkt so unauffällig, dass sie eigentlich nicht in sein Beuteschema passt. Er aber trägt seine schwarz-rot karierten Hosen, die ein sicheres Indiz für einen großen Abend sind. Lobitsch trägt sie nur dann, wenn er ein Fass aufmachen möchte. Früher hatte er sie bei seinenNuttenbesuchen an. Einmal, als ich ihn bei einer Sache erwischte und aufhielt.
Lobitsch ist kein besonders attraktiver Mann. Aber wenn er möchte, kann er eine Frau mit einem einzigen Blick in seinen Bann schlagen, sie fesseln und ihr das Gefühl geben, dass er ihre Gedanken lesen kann. Lobitsch ist von enormer empathischer Begabung und schafft es, sich unglaublich gut auf das jeweilige Gegenüber einzuspielen. Das wiegt mehr als jeder trainierte Bizeps, wie ich schon mehr als einmal beobachten durfte.
Sie gehen unterhalb des Denkmals vorbei und wechseln zur weniger belebten Seite des Weihers; Lobitsch redet, gestikuliert, die Frau lacht immer wieder amüsiert auf und lehnt sich jedes Mal ein bisschen länger an seine Schulter. Er gibt erfolgreich den charmanten Mann, und das möchte ich ihm auch gar nicht absprechen. Allerdings führen seine Vorbereitungen nicht zu einem harmlosen One-Night-Stand; Lobitsch mag es härter.
Ich folge ihnen auf der anderen Seite des stehenden Gewässers. Es ist zugefroren, Schlittschuhläufer ziehen auf dem Eis ihre Runden. Ich lasse Lobitsch nicht aus den Augen. Sein Weg führt ihn zu einer Maronenbude, wo er von der dick eingemummten Frau, die bereits dabei ist, zusammenzupacken, eine Tüte ersteht. Dann schlendert er mit seiner Begleiterin weiter, verlässt den Weg und steuert auf ein paar Bäume zu. Ich bin mir sicher, dass er ihr gesagt hat, es sei eine Abkürzung zu seinem Wagen. Bevor sie aus meinem Blickfeld verschwinden, laufe ich los.
Es ist so weit.
Ich sprinte ins Unterholz, ziehe meine Wollmütze nach unten und mache so eine Art Sturmhaube daraus. Die Maschen sind so grob, dass ich keine Augenlöcher benötige, was meinen Anblick zusätzlich bis zur Unkenntlichkeit verändert.
Ich höre ein leises, trockenes Knistern aus dem vor mir liegenden Dickicht: ein Elektroschocker! Lobitsch hat schon angefangen. Aber das hat auch einen Vorteil: Die Frau ist mit Sicherheit ohnmächtig, was mir mein Vorhaben sehr erleichtert.
Mit einem kraftvollen Sprung hechte ich durch den Busch vor mir, rolle mich ab und schnelle hinter Lobitschs Rücken wieder hoch. Er kniet über der Frau am Boden; in der Linken hält er den Schocker, in der Rechten ein Messer, mit dem er gerade die Kleidung seines Opfers aufschneiden will.
Er wirbelt herum, sieht mich und geht sofort in Angriffsstellung. »Was zum Teufel …?«,
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