Kinder des Mars
lasen in einer Schale voll Blut die Zukunft. Durch junge, unschuldige Opfer, die als besonders rein galten, sollte die Fruchtbarkeit der Erde garantieren werden. Und für Menschen galt Opferblut als Elixier der Jugend, lange bevor Erzsebet Bathory lebte. Wahrscheinlich hatte sie die Idee von einem antiken Kult aufgenommen.« Sie pustete in ihren Kaffee in der vagen Hoffnung, dass er schneller abkühlte.
»Diese antiken Kulte, die sie wohl beeinflussten, gehören genau wie die Vampirgeschichten, über die ich mich informiert habe, in die Alte Welt«, vermutete Melissa. »Davon haben wir eigentlich genug gehört, die Alte Welt wird in Seminaren zur Kulturgeschichte ständig thematisiert. Aber über Südamerika weiß ich nicht viel.«
»Ich denke auch, es genügt, wenn wir die Fiktion und die Kulte der Alten Welt nur kurz überblicksartig darstellen und uns dann in der Präsentation auf Südamerika konzentrieren. Immerhin ist die Neue Welt unsere Welt und wir leben auf demselben Kontinent, wenn auch im Norden. Doch so weit weg sind Maya und Azteken nicht, geographisch gesehen sind sie uns näher als Europa, Afrika oder Asien.«
»Nur kamen die meisten unserer Vorfahren daher.«
»Genau, darum nahmen sie erheblich Einfluss auf die Entwicklung Nordamerikas.« Ella dachte daran, dass sich dieser Umstand bis heute nicht geändert hatte. Allein die Musik im Radio war ein Beweis dafür. Es lief Ruby Tuesday von den Rolling Stones. Eine alte Band aus England, die noch immer den Musikern aus den USA den Rang ablief, von Südamerika ganz zu schweigen. Immerhin passte der Song zu ihrem Thema – ruby, rubinrot, rot wie Blut. Der Musikredakteur hatte sich vielleicht einfach für das Lied entschieden, weil heute Dienstag war. Es gab nicht viele Titel mit diesem Wochentag, und Ruby Tuesday war mit Abstand der bekannteste.
»Trotzdem sollten wir nicht vernachlässigen, was quasi vor der Haustür liegt«, sagte Melissa.
»Eben«, stimmte Ella zu. »New Mexico ist einer unserer Bundesstaaten, und Texas ist sogar noch näher an Mittelamerika.«
»Klingt gut. Hast du schon genaueres über die ausgestorbenen Kulturen dort herausgefunden?«
»Ja, unter anderem, dass sie nicht so ausgestorben sind, wie die meisten glauben. Es gibt noch immer Nachfahren, besonders von den Inka, die sich ihres Erbes sehr bewusst sind. Es sind ungefähr dreizehn Millionen, sie nennen sich Tawantinsuyu. Die sechs Millionen Abkömmlinge der Maya werden als Indigenas bezeichnet. Von den Azteken sind nicht viele Nachkommen übrig, aber ihre Sprache wird von Teilen der mexikanischen Urbevölkerung gesprochen. Das waren die drei größten und mächtigsten Reiche, es gab noch andere, kleinere Völker, deren Existenz durch archäologische Funde belegt ist, allerdings gelten sie tatsächlich als ausgestorben.«
»Wow. Leben diese Erben noch wie ihre Vorfahren?« wollte Melissa wissen.
»Nein. Was für uns interessant ist, sind die nicht mehr praktizierten Bräuche, die vor mehr als fünfhundert Jahren Hochkonjunktur hatten.« Ella trank vorsichtig einen Schluck Kaffee. Kaffee. Hier haben wir etwas, das aus dem Süden unseres Kontinents kommt und unsere Kultur sehr stark geprägt hat , dachte Ella. Das schwarze Gebräu war noch immer heiß, aber sie verbrannte sich nicht die Zunge und nahm einen zweiten Schluck.
»Irgendetwas 'vampirisches' dabei?«
»Mehr oder weniger. In Südamerika gab es nicht das Konzept eines Vampirs, wie wir es kennen. Dort wurden Götter verehrt, die Opfer forderten, und diese Götter wurden ganz im Gegensatz zum Vampir nicht als Parasiten betrachtet. Es galt als Ehre, für einen Gott zu sterben, und die Zeremonien wurden in aller Öffentlichkeit und oft im Tageslicht vollzogen, nicht heimlich hinter verschlossenen Türen und ganz ohne erotische Anspielungen. Es wurden nicht nur schöne Jungfrauen geopfert, sondern auch Jungen, und ein Mindestalter gab es nicht. Es gibt sogar Funde von Babies, die im Zuge von religiösen Riten getötet wurden.«
»Gruselig, das klingt nach der Dämonin Lilith aus der Alten Welt.«
»Daran musste ich auch denken. Doch es ist eher die Ausnahme. Die meisten Funde sind von älteren Kindern oder Erwachsenen. Menschenopfer hießen bei den Inka capacochas und dienten der Abwehr von Dürre, Epidemien, Erdbeben und Vulkanausbrüchen. Sie wurden jährlich den Göttern zur Sommersonnenwende im Juni und Dezember dargebracht, aber auch dem Herrscher geopfert, wenn in seinem Leben etwas wichtiges geschah, wie
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