Kinder des Wassermanns
schnappte; er schritt auf einer Brücke, die wie eine Messerklinge war, über eine bodenlose Kluft. So gelangte er endlich vor die riesige, einäugige, feindselige Sedna, die von einigen Mutter des Meeres genannt wird.
Es war, als sei die Zeit bis zum Vorabend des Jüngsten Tages fortgeschritten, als Ulugatok rief: »Ruhe! Ruhe! Der Schatten reift.« Er wagte nicht, hier den richtigen Namen zu nennen – ein Mann mußte ein Schatten, seine Annäherung ein Reifen sein, damit die Geister ihn nicht hörten und erschlugen. Er erstickte die einzige Flamme, denn es würde Panigpak töten, sollte ihn jemand sehen, bevor er die Haut wieder überwarf, die er zurückgelassen hatte, als er hinabfuhr.
Die absolute Lichtlosigkeit rief ein Gefühl des Drehens, Fallens, des hilflosen Davongetragenwerdens auf einem Sturmwind hervor, dessen Tosen von einem unsichtbaren Himmel widerhallte. Dann begann die Trommel von neuem, und die Seehundshaut rasselte. Ulugatok stimmte ein langes Zauberlied an, dessen Worte keiner sonst kannte. Vielleicht war sein hauptsächlicher Zweck, Ruhe zu bringen. Er hörte nicht auf, bis die einzigen Laute dem Weinen geängstigter Kinder entstammten.
Die müde Stimme Panigpaks ließ sich hören: »Zwei von uns müssen diesen Winter sterben. Aber wir werden reichlich Fleisch finden, Schwärme von Fischen werden kommen, Frühling und Sommer werden mild sein, die Nachbarn werden weggehen. Ich habe auch eine
Nachricht für unsere Gäste, doch ich muß sie ihnen später mitteilen, allein. Es ist getan.«
Ein Mann tastete sich durch die Finsternis, holte aus einer nahe gelegenen Hütte Feuer, kehrte zurück und entzündete die Lampen. Panigpak saß auf dem Sims, von den Riemen gebunden. Ulugatok trat zu ihm und löste die Fesseln. Der Angakok fiel nach hinten und lag für eine Weile ohne Bewußtsein. Als er die Augen öffnete, sah er Tauno und Eyjan unter denen, die ihn umstanden. Er versuchte ein schwaches Lächeln. »Es war nichts«, murmelte er. »Nur Lügen und Blendwerk. Ich bin ein alter Schwindler, und keine Weisheit ist in mir.«
Die Inuit sprachen über solche Dinge nicht, sobald sie vorbei waren. Mit sehr viel Scheu suchte Panigpak die Geschwister auf, nachdem er sich ausgeruht und gegessen hatte. Alle drei gingen zum Strand hinunter.
Das Wetter war klar und kalt. Nach einem flüchtigen Blick auf die Welt glitt die Sonne weit weg im Süden wieder unter den Horizont. Ihre Strahlen färbten zwei Eisberge, die durch das graue Wasser pflügten, stählern und blau. Glattes Eis bildete sich entlang der Küste, doch war es noch zu dünn, als daß man darauf hätte reisen können. Eissturmvögel glitten durch die Luft; ihre Rufe drangen schwach an die Ohren jener, die auf dem schneebedeckten Kies am Strand standen.
»Nichts im Meer ist vor ihr in den Tiefen verborgen«, sagte Panigpak ernster, als es seine Gewohnheit war. »So wußte sie auch von eurem Volk, Tauno und Eyjan. Jemand mußte sie zwingen, ein Wort auszuwürgen, wie er sie zwingen muß – wenn er kann – , die Seehunde in einer Jahreszeit freizugeben, wenn es für unsere Jagd zu wenige sind. Sie ist nicht freundlich, diese Sedna.«
Tauno faßte des Angekoks Schulter. Das Schweigen dehnte sich aus. Eyjan verlor die Geduld, warf ihre rötlichen Locken zurück und fragte: »Und wo sind sie?«
Die Runzeln in Panigpaks Gesicht spannten sich an. Er starrte in die Ferne und berichtete leise: »Es ist schwer zu verstehen. Es ist etwas geschehen, das sogar sie verwirrt. Ihr müßt diesem Dummkopf bei seinem Bericht helfen, denn ihr werdet viel begreifen, das er nicht begreifen kann. Während nun trockenes Land jenseits von Sednas Wissen liegt, hat sie doch Namen für viele Teile entlang den Küsten. Ich glaube, sie hat sie von ertrunkenen Seeleuten gehört. Ich erinnere mich an den Klang der Namen – man vergißt nichts, was man an diesem Ort erfahren hat, aber meinem unwissenden Selbst bedeuten sie nichts, obwohl sie zweifellos euch etwas sagen werden.«
Nach dem, was er an sie weitergab, konnten die Fragesteller einen Großteil der Geschichte Stück für Stück zusammensetzen. Das Liri-Volk hatte sich in Norwegen ein Schiff verschafft, wahrscheinlich mit Gewalt. Sie wollten nach Markland oder Vinland fahren – die Norweger hierzulande wußten nicht mehr, welche Region westlich von ihnen wo lag – , als ein Sturm sie traf. Es mußte derselbe gewesen sein, dessen Randzone die
Herning
beschädigt hatte. Das andere Fahrzeug hatte seine volle
Weitere Kostenlose Bücher