Kinder
abseits vom Trubel in der Notaufnahme etwas
ausruhen konnte.
Als er das Krankenzimmer seiner Tochter erreichte, kam gerade Dr.
Romero heraus und nickte ihm mit ernster Miene zu. Er wollte kurz mit dem Arzt
reden, aber der hatte es eilig und vertröstete ihn auf später.
Annette Pietsch saß an Sarahs Bett und hielt ihre Hände. Das Mädchen
weinte und schaute zur Decke.
Rainer Pietsch sah für einen Moment Michael vor sich, wie er vor
nicht allzu langer Zeit ebenfalls so dagelegen hatte. Und er fragte sich, was
seine Familie wohl noch aushalten musste, bis dieser Albtraum endlich vorüber
war.
»Wurde sie schon untersucht?«, fragte er seine Frau und blieb neben
dem Bett stehen.
»Ja, Dr. Romero war gerade hier.«
»Ich weiß, ich habe ihn gesehen, als ich hier ankam. Aber er wollte
nicht mit mir reden, hatte wohl keine Zeit.«
»Oder ein schlechtes Gewissen«, sagte Annette Pietsch. »Er hat mir,
glaube ich, durchaus angemerkt, dass ich es nicht gut fand, wie er dich wegen
Michaels Verletzungen angeschwärzt hat.«
Rainer Pietsch sah seine Frau an, konnte aber nicht mit Sicherheit
sagen, ob sie Dr. Romeros Anschuldigungen für wahr oder ihn für unschuldig
hielt.
»Hast du eigentlich ein gutes Gefühl, wenn ausgerechnet er es wieder
ist, der Sarah untersucht?«
Annette Pietsch sah ihn fragend an.
»Nein, der macht auch nur seinen Job. Und daraus, dass ich Sarah vor
einer Vergewaltigung bewahrt habe, kann er mir ja wohl kaum einen Strick
drehen.«
»Du bist dir sicher, dass sie nicht vergewaltigt wurde?«
»Ich hab sie danach gefragt, als ich ihr aus dem Gebüsch half, und
da hat sie den Kopf geschüttelt.«
Annette Pietsch sah ihre Tochter lange an, Sarah schien es auch so
schon schlecht genug zu gehen.
»Und? Hat Romero etwas gesagt? Zu Sarahs Verletzungen, meine ich.«
»Er hat Kratzer gefunden, Druckstellen, an den Handgelenken ist sie
wohl gepackt worden, auch an den Beinen und an den Schultern. Außerdem hat er
versucht, an den Brüsten, zwischen den Beinen, am Bauch und am Hintern DNA -Spuren zu sichern. Er hat ihr ein paar Ästchen aus
den Haaren gekämmt, hat die Kleidungsstücke einem Polizisten von der
Spurensicherung mitgegeben, der ins Krankenhaus gekommen war. Das kommt jetzt
alles ins Labor, und dann sehen wir weiter. Die fahren offenbar das volle
Programm.«
»Das wollen wir doch hoffen«, sagte Rainer Pietsch und sah zu seiner
Tochter hin, die einen einfachen Krankenhauskittel trug, sich die Bettdecke
straff unter die Achseln geklemmt hatte und noch immer unverwandt zur Decke
hinaufstarrte.
Christine Werkmann folgte Lukas ins Schulgebäude und hatte
dabei ein mulmiges Gefühl. Sie gingen die Treppe im Hauptflur hinauf, und Lukas
blieb schließlich vor der letzten Tür auf der rechten Seite stehen.
»Hier?«
Lukas nickte.
Christine Werkmann zog die Tür auf und ging in den Chemiesaal, Lukas
folgte ihr.
»Ja, bitte?«
Die Lehrerin an der Tafel zog die Augenbrauen hoch und sah durch
ihre schmale Brille streng zu Christine Werkmann hin. Sie kannte die Lehrerin
nur von dem Bild auf dem Poster, mit dem sich das Kollegium an der Wand neben
dem Sekretariat vorstellte – Kevin hatte diese Lehrerin nicht unterrichtet. Sie
schluckte kurz, dann riss sie sich zusammen.
»Ich möchte gerne Michael Pietsch abholen.«
»Ach?«
»Seine Eltern haben mich darum gebeten, er soll bitte seine Sachen
nehmen und gleich mitkommen.«
»Und wer sind Sie?«
»Mein Name ist Christine Werkmann, ich bin eine Freundin seiner
Eltern.«
Die Lehrerin sah fragend zwischen Michael und der für sie fremden
Frau hin und her.
»Wir haben Chemie, Michael hat noch Unterricht bis 17:25 Uhr. Kann
das nicht so lange warten?«
»Nein, kann es nicht. Michaels Schwester liegt im Krankenhaus, und
seine Eltern haben mich gebeten, ihn und Lukas« – sie deutete auf den Jungen
neben sich, der dazu eifrig nickte – »abzuholen. Jetzt abzuholen!«
Michael packte schon seine Sachen zusammen, seine beiden
Tischnachbarn links und rechts klopften ihm aufmunternd auf die Schultern,
einer versprach ihm, die Unterlagen der heutigen Stunden für ihn zu kopieren.
»Aber«, machte die Lehrerin noch einen Versuch, »Sie können hier
nicht einfach … Ich kenne Sie ja gar nicht.«
Christine Werkmann hatte keine Lust auf Komplikationen und sie
wollte so schnell wie möglich wieder aus dieser verdammten Schule verschwinden.
»Doch, Sie kennen mich«, sagte sie, und sie klang nun eiskalt. »Mein
Name ist, wie gesagt, Christine
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