Kinderstation
zurück.
»Zufrieden, Julius?«
»Meinen Zustand kann man nicht als Zufriedenheit bezeichnen, Herr Professor. Ich bin betrübt, daß alles sich so entwickelt hat.«
»Betrübt!« Karchow hieb mit der flachen Hand auf den Tisch. »So redet ein Fisch, wenn ihm der Laich wegschwimmt! Haben Sie denn kein heißes Blut in den Adern?«
»Ich glaube schon. 36,7 Temperatur, das ist bei mir normal, Herr Professor.«
»Ich werfe Sie gleich aus dem Zimmer, Julius!« Karchow lachte. »Gehen Sie jetzt als Ersatz wenigstens an die kleine Heintel ran?«
»Bestimmt nicht.« Julius lächelte schwach zurück. »Ich habe nie Verständnis dafür aufgebracht, daß sich Menschen auf einem Vulkan ansiedeln –«
Dr. Vosshardt kam nicht mehr in die Klinik ›Bethlehem‹ zurück. Durch einen Boten ließ sie ihre persönlichen Sachen aus ihrem Zimmer holen, auch ein eingerahmtes Bild von Dr. Julius.
Später hörte man dann, daß sie als ärztliche Leiterin eines Kindererholungsheimes in Bayern verpflichtet worden sei. Man bedauerte Oberarzt Dr. Julius allgemein, gab der grünäugigen Lisa Heintel die Alleinschuld und versuchte, ihr das Leben in der Klinik schwerzumachen. Sie merkte es wohl, aber mit Charme und Unbekümmertheit setzte sie sich darüber hinweg. Für sie war Dr. Julius wirklich auch nur ihr Oberarzt, ihr unmittelbarer Vorgesetzter. Anders wurde allerdings ihre Einstellung zu dem groben Klotz Dr. Wollenreiter. Ihn umstrich sie wie eine heiße Katze, und Wollenreiter kam oft in die Bedrängnis, seinen Widerstand aufzugeben. Dann flüchtete er sich in unflätige Bemerkungen. Gespannt beobachtete die ganze Klinik diesen ungleichen Zweikampf, im Arztkasino wurden Wetten abgeschlossen, wann Wollenreiter dem süßen Gift der Heintel erliegen würde, die Ordensschwestern schnitten Lisa als Sinnbild der leiblichen Sünde.
So ging der Frühling vorbei, der Sommer kam, ein heißer August brütete über der Stadt.
Dr. Julius fuhr in Urlaub. An den Wörthersee.
In diesem Jahr hatte sich nichts Aufregendes mehr ereignet. Gärtner Philipp Lehmmacher resignierte. Der Vertrag mit dem Schausteller war annulliert worden, die täglichen 100 DM waren somit futsch, auch der Ruhm von Vierlingen verbraucht sich mit der Zeit, und so schlug sich Lehmmacher mit dem Problem herum, eine große Familie zu ernähren. Zwei der Vierlinge waren längst zu Hause, während die Siamesen noch immer in einem Sonderzimmer von ›Bethlehem‹ lagen und wuchsen und dick und rund und gesund wurden. Nach dem Urlaub sollte die Trennung versucht werden. Zehn Spezialuntersuchungen waren abgeschlossen, zehn Gutachten von Hirnkapazitäten lagen vor. Eine Trennung war möglich. Lebenswichtige Teile konnten dabei nicht verletzt werden. Lediglich das Problem der gemeinsamen Hirnadern war gegeben … aber auch das machte bei dem heutigen Stand der Chirurgie keine Schwierigkeiten mehr, wo man fehlende Adernstücke durch Kunststoffadern ersetzen konnte. Nur das Gespenst einer Embolie drohte, aber es steht unsichtbar ja neben jedem operativen Eingriff.
Julia Bergmann und Franz Höllerer hatten geheiratet. In aller Stille, in München. Maria lief nun schon ihre ersten tappenden Schritte. Sie war ein schönes Kind geworden, pausbackig und fröhlich, und es sah Franz Höllerer ähnlich, wie eine Tochter nur ihrem Vater ähnlich sehen kann. Staunend betrachtete Großvater Ernst Bergmann immer wieder sein ›falsches‹ Enkelkind, verglich es mit seinem Schwiegersohn und schüttelte den Kopf.
»Es muß doch was Wahres dran sein«, sagte er, »daß die Umwelt den Menschen formt.«
»Quatsch, Papa«, antwortete Julia. »Maria ist unser Kind, das ist das ganze Geheimnis.«
Ernst Bergmann schwieg dann. Er hatte sein richtiges Enkelkind im Bett gesehen, der Arzt hatte es ihm selbst gezeigt. Ein Arzt lügt nicht! Aber er begann sich trotz aller anfänglichen inneren Abwehr an die kleine Maria zu gewöhnen. Er nahm sie auf den großväterlichen Schoß, er spielte mit ihr, er ging mit ihr im Englischen Garten spazieren und zeigte ihr auf dem Gartensee die Schwäne und Enten, er kaufte ihr Spielzeug und Puppen und benahm sich so, wie sich ein Großvater zu benehmen hat. Und als der Sommer kam, hatte sich auch Ernst Bergmann daran gewöhnt, daß Maria das richtige Kind war. Wenigstens tat er so.
Karin Degen, die kleine Krankenschwester mit dem großen Herzen, versah immer noch fleißig und unauffällig ihren Dienst auf der Station. Das braunhäutige Wunderbaby mit der spontan
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