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Kinderstation

Kinderstation

Titel: Kinderstation Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Heinz G. Konsalik
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seines Anzuges hinab, er strich über die Tischkante. Dann nahm er eine Nelke aus der Blumenvase und begann, von dem knotigen Stengel mit spitzen Fingern winzige Fasern abzulösen.
    Es hat sich nichts geändert, dachte er zufrieden. Ich habe alle Nervenfunktionen behalten. Es ist jetzt nur eine Frage der Selbstbeherrschung und der Kraft, ob ich durchhalte. Und bei Gott – ich werde durchhalten.
    »Tu es nicht, Bernd«, hörte er wieder Renates Stimme. »Ich flehe dich an! Denk jetzt einmal an uns! Nur dieses Mal. Du kannst deine ganze weitere Karriere damit verbauen, wenn der kleinste Fehler unterläuft, für den du verantwortlich bist.«
    »Es wird keine Fehler geben. Aber ich habe Angst, wenn jemand die Hirnadern transplantieren soll, der es an dieser Hirnstelle noch nicht geübt hat. Ich habe es bei den Tierversuchen gesehen, vor allem bei Bruno – man kann das nicht aus der linken Hand heraus machen.«
    Müller III kam zurück. Er hatte den Hut aufgesetzt, aber seinen weißen Arztkittel noch an. Es wirkte wie eine Maskerade.
    »Können wir?«
    »Ja. Drück mir die Daumen!« Julius sah zu Renate. Sie nickte ihm zu, und er sah, daß in ihren Augen blanke Angst lag. Da schüttelte er den Kopf und lächelte. »Nicht, Liebes. Ich habe immer gewußt, wie weit ich gehen kann. Und wenn ich nur daneben stehe – aber dabei möchte ich sein –«
    In der Riesenklinik ›Bethlehem‹ war der Betrieb wie alle Tage. Im Gegenteil – da heute Mittwoch war und Besuchstag, ergoß sich wieder eine Woge Eltern und Verwandte in die Flure und Krankenzimmer und belagerte die großen Glasfenster der Säuglingsstationen und der Infektionsabteilungen.
    Nur im Operationstrakt ging man wie auf Filzpantoffeln. Im Warteraum der Wachstation, wo die Frischoperierten untergebracht wurden, hockten Philipp und Erna Lehmmacher und starrten vor sich hin. Philipp Lehmmacher roch nach Alkohol. Als er die Nachricht bekam, daß man sofort operieren müsse, da eines der Kinder plötzlich ein akutes Kreislaufversagen bekommen hatte, war sein erster Griff zur Flasche gewesen.
    »Ich Unglücklicher«, hatte er gebrüllt. »Alles ist gegen mich! Jetzt trennen sie doch, aber nur ein Kind bleibt übrig! Wäre ich doch zur Abnormitätenschau gegangen! Pro Tag 100 DM! Alles futsch! Erna, ich besauf mich!«
    Das tat er nicht, aber er brachte eine wehende Fahne in die Klinik mit. Dr. Wollenreiter schnupperte und sagte: »Wenn der Chef nicht dagegen wäre, könnten Sie die Narkose Ihrer Kinder übernehmen. Dreimal anhauchen – und wupp, weg sind sie.«
    Heute war Lehmmacher nicht zu Späßen aufgelegt. Er sagte schroff: »Herr Doktor, Sie sind ein Flegel«, und wandte sich ab. Erna Lehmmacher weinte.
    Dann war ein Hasten und Rennen im Operationstrakt. Ein Heer von weißen Kitteln eroberte den OP. Ein anscheinend hoher Gast war gekommen, denn Prof. Karchow kam ihm selbst mit ausgestreckten Händen entgegen. Prof. Hahnel, der Neurochirurg.
    In einem Spezialbett auf dicken Gummirädern wurden endlich die Zwillinge in den OP-Trakt gerollt. Philipp Lehmmacher und seine Frau Erna drückten die Gesichter gegen das Fenster der Wartestube, das zum Flur führte.
    »Unsere Kinder –«, schluchzte Erna. »Sieh mal … sie sind schon ohnmächtig. Sie sehen schon jetzt wie tot aus.«
    Lehmmacher starrte auf die kleinen, zusammengewachsenen Köpfe. Sie waren bereits rasiert und durch Beruhigungsinjektionen halb narkotisiert. Zwei Schwestern begleiteten das Spezialbett, das schnell in den Vorbereitungsraum geschoben wurde. Zischend und schmatzend schlossen sich die automatischen, gummigelagerten Türen. Die weißen Kittel drängten durch eine Nebentür. Dann leuchtete über dem OP-Eingang eine rote Lampe auf.
    Keine Störung mehr. Ruhe! Hier wird jetzt um einen kleinen Menschen gekämpft. Um ein armseliges Leben.
    Philipp Lehmmacher setzte sich wieder und nahm eine flache Flasche aus der Rocktasche. Er setzte sie an die Lippen und trank schmatzend wie ein Säugling an der Mutterbrust.
    »Laß das«, sagte Erna weinend. »Du säufst, und nebenan geht es um Leben und Tod.«
    »Wird es anders, wenn ich nicht saufe?« brummte Lehmmacher, aber er steckte die Flasche wieder ein.
    Etwa zwanzig Minuten nach dem Aufleuchten der roten Lampe – Prof. Karchow, Prof. Hahnel, Dr. Wollenreiter und ein Assistententeam wuschen und schrubbten sich gerade Hände und Arme – schwang die Milchglaspendeltür zur Eingangshalle wieder auf, und zwei neue Gestalten kamen herein. Einer von ihnen

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