Kindertotenlied: Thriller (German Edition)
Dunkelheit gehüllt war. Kurz erhellte ein Blitz den Gang, gefolgt vom Krachen eines Donners. Dann war alles wieder dunkel. Die einzige Lichtquelle waren die Straßenlaternen und die Neonröhren eines Cafés von unten, deren matter Schimmer durch ein leeres Zimmer zu ihrer Linken hereinsickerte. Der Regen, der über die Scheiben rann, warf im Widerschein der Straßenbeleuchtung Schatten, die wie schwarze Schlangen über die Wände krochen. Sie spürte, wie ihre Nervosität exponentiell zunahm. Von Anfang an war ihr klar gewesen, dass sie es mit jemand Erfahrenem zu tun hatte. Sie wusste nicht, was dieser Typ gemacht hatte, ehe er Privatdetektiv wurde, aber sie war sich sicher, dass er alle Tricks, alle Finten kannte. Ihr fiel ein, was Zuzka in einer solchen Situation gesagt hätte.
„Das ist nicht ganz koscher.“
Richter Sartet wollte gerade die Tür zu seinem Büro abschließen, als er im Gang Schritte hörte.
„Wie sind Sie hierhergekommen?“
„Sie vergessen, dass ich Abgeordneter bin“, antwortete der Besucher.
„Dieses Justizgebäude ist durchlässig wie ein Sieb … Sie haben keinen Termin bei mir, glaube ich. Und mein Arbeitstag ist beendet. Ich wüsste nicht, dass Ihre Immunität bereits aufgehoben wurde, Herr Abgeordneter“, spöttelte er. „Seien Sie unbesorgt, ich werde Sie zu gegebener Zeit vernehmen: Ich bin mit Ihnen noch nicht fertig. Ich fange gerade erst an.“
„Es dauert nicht lange.“
Der Richter machte keinen Hehl aus seiner Verärgerung.
„Was wollen Sie, Lacaze?“, fragte er, ohne auch nur zu versuchen, nett zu sein. „Ich habe keine Zeit für Intrigen.“
„Ich möchte ein Geständnis ablegen.“
Ein Blitz ließ die Scheiben erzittern. Gleichzeitig vibrierte das Handy, und er zuckte heftig zusammen. Mit pochendem Herzen streckte Servaz die Hand aus; er tastete nach dem Apparat auf dem Nachtschränkchen, aber Espérandieu war schneller.
„Nein … ich bin sein Mitarbeiter … Ja, er ist neben mir … Ja, ich reiche Sie weiter …“
Vincent gab ihm das Handy und ging hinaus auf den Flur.
„Hallo?“
„Martin? Wo bist du?“
Marianne.
„Im Krankenhaus.“
„Im Krankenhaus?“ Sie wirkte aufrichtig verblüfft und erschrocken. „Was ist denn passiert?“
Er erzählte.
„Um Gottes willen! Soll ich dich besuchen?“
„Ab 20 Uhr sind Besuche verboten“, antwortete er. „Morgen, wenn du willst. Bist du allein?“, fügte er hinzu.
„Ja, warum?“
„Schließ die Tür ab und lass die Rollläden runter. Und mach niemandem auf, verstanden?“
„Martin, du machst mir Angst.“
Ich hab auch Angst , hätte er ihr beinahe geantwortet. Ich sterbe vor Angst. Verschwinde. Bleib nicht in diesem leeren Haus. Schlaf bei jemand anders, solange wir diesen Irren nicht gefunden haben …
„Du brauchst keine Angst zu haben“, sagte er. „Aber tu, was ich dir sage.“
„Die Staatsanwaltschaft hat mich angerufen“, fuhr sie fort. „Hugo kommt morgen raus. Er hat am Telefon geweint, als ich mit ihm gesprochen habe. Ich hoffe, diese Erfahrung hat ihn nicht …“
Sie sprach ihren Satz nicht zu Ende. Er spürte, dass sie gleichzeitig erleichtert und froh war, aber auch besorgt.
„Was hältst du davon, wenn wir das zu dritt feiern?“
„Du meinst …“
„Hugo, du und ich“, bestätigte sie.
„Marianne, meinst du nicht, das … das ist ein wenig … verfrüht? Schließlich bin ich auch der Polizist, der ihn hinter Gitter gebracht hat …“
„Vielleicht hast du recht.“ Er spürte ihre Enttäuschung. „Dann also später.“
Er zögerte.
„Dieses Abendessen … soll das heißen, dass …“
„Die Vergangenheit ist vergangen, Martin. Aber Zukunft ist auch ein hübsches Wort, findest du nicht? Erinnerst du dich an diese Sprache, die wir erfunden hatten? Nur für uns zwei?“
Und wie er sich daran erinnerte. Er schluckte. Spürte, wie sich seine Augen mit Tränen füllten. Bestimmt lag das an dem Medikament und am Adrenalin, das weiterhin durch seine Adern floss, diese ganze Aufregung …
„Ja … ja … natürlich“, antwortete er mit zugeschnürter Kehle. „Wie hätte ich …“
„ Guldenrêves , Martin“, sagte die Stimme am anderen Ende. „Pass auf dich auf, bitte … Ich … Bis ganz bald.“
Fünf Minuten später summte sein Handy erneut. Wie beim letzten Mal ging zunächst Espérandieu dran, dann reichte er den Apparat weiter.
„Commandant Servaz?“
Sofort erkannte er die jugendliche Stimme. Sie klang ganz anders als
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