Kindertotenlied: Thriller (German Edition)
wollen.
Sie hatte bereits Gelegenheit dazu gehabt: Damals, als sie gedacht hatte, sie könnte fliehen, während er sich lediglich schlafend gestellt hatte, um nachher im Wald besser mit ihr spielen zu können. Damals hätte sie bestimmt eine Möglichkeit gefunden, Schluss zu machen, wenn sie entschlossen gewesen wäre. Aber damals hatte sie nur fliehen, lebend entkommen wollen.
Hatte es vor ihr andere gegeben? Sie hatte sich die Frage schon oft gestellt, und sie war sich sicher, dass die Antwort ja lautete. Sie war die Letzte in einer langen Serie: Seine Vorkehrungen waren zu perfekt, er hatte kein Detail dem Zufall überlassen – ordentliche Arbeit.
Plötzlich sah sie die Lösung mit eisiger Klarheit.
Sie hatte keine Möglichkeit, sich umzubringen. Also musste sie ihn dazu bringen, sie zu töten.
So einfach war das. Plötzlich überkam sie eine Woge der Begeisterung, die so unangemessen wie flüchtig war, wie ein Mathematiker, der soeben die Lösung zu einer sehr komplexen Gleichung gefunden hat. Dann gingen ihr die Schwierigkeiten auf, und ihre Begeisterung verflog.
Allerdings hatte sie ihm gegenüber einen Vorteil: Sie hatte Zeit.
Zeit, um zu grübeln, Zeit, um nachzudenken, Zeit, um verrückt zu werden, aber auch Zeit, um eine Strategie auszutüfteln. Ja, dies war die einzige Ressource, über die sie unerschöpflich verfügte: Zeit.
In der fast völligen Finsternis ihres Gefängnisses, in das nur durch den schmalen Schlitz unter der Klappe etwas Licht fiel, begann sie nunmehr auszuarbeiten, was man wohl einen Plan nennen musste.
Dienstag
23
Schlaflosigkeit
Der Mondschein fiel durch die offene Fenstertür ins Schlafzimmer. Als er den Kopf hob und nach links wandte, sah er seinen Widerschein auf der Oberfläche des Sees. Gleich unter dem Schlafzimmerbalkon umspülten die Wellen mit einem leisen Rascheln wie von zerknautschtem Stoff den Strand.
Er spürte Mariannes weichen, warmen Körper an sich. Ein Körper an seinem, eine Fremde in seinem Bett, das war seit Monaten nicht mehr vorgekommen. Sein Schenkel auf ihrem, ihre nackten Brüste an seinem Oberkörper, und dieser Arm, den sie vertrauensvoll um ihn schlang. Eine blonde Haarsträhne kitzelte sein Kinn. Sie atmete regelmäßig, und er wagte sich nicht zu rühren, um sie nicht zu wecken. Das Seltsamste war dieses Atmen: Nichts war intimer als ein schlafender Mensch, dessen Atem man an seinem Körper spürte.
Durch das Fenster sah er am gegenüberliegenden Seeufer die dunkle Masse des Felsvorsprungs, den die Menschen hier „den Berg“ nannten. Der Mond stand direkt darüber. Es hatte aufgehört zu regnen. Der Himmel war voller Sterne, der Wald darunter dunkel und starr.
„Schläfst du nicht?“
Er drehte den Kopf. Mariannes Gesicht im Mondschein, ihre großen, hellen Augen, die neugierig schimmerten.
„Und du?“
„Hm … Ich glaube, ich hab geträumt … Ein seltsamer Traum … Weder angenehm noch unangenehm …“
Er sah sie an. Sie schien nicht mehr sagen zu wollen. Ein Gedanke schoss ihm durch den Kopf und verschwand gleich wieder, als er sich fragte, wer wohl in ihrem Traum vorkam: Hugo, Bokha, Francis – oder er? Ein Nachtvogel stieß unten im Wald einen langen, fremdartigen Schrei aus.
„In meinem Traum kam Mathieu vor“, sagte sie schließlich.
Bokha … Bevor er etwas sagen konnte, stand sie auf und verschwand im Badezimmer. Er hörte sie durch die halb geöffnete Tür pinkeln, dann einen Wandschrank öffnen. Er fragte sich, ob sie noch ein Kondom suchte. Was sollte er davon halten, dass sie offenbar welche auf Vorrat hatte? Sie hatten zum ersten Mal eins benutzt, und ihm kam es ganz seltsam vor. Dass er aber selbst keines mitgebracht hatte, hatte sie anscheinend gefreut. Er sah auf den Radiowecker. 2:13 Uhr. Er dachte einen Moment daran, wie er sie vor dem nächsten Mal zählen könnte, falls es ein nächstes Mal geben sollte – dann schämte er sich für diesen Gedanken.
Zurück im Schlafzimmer, nahm sie eine Zigarette vom Nachttisch und zündete sie an, ehe sie sich neben ihm ausstreckte. Sie zog zweimal daran, dann steckte sie sie ihm zwischen die Lippen.
„Was machen wir hier eigentlich?“, fragte sie.
„Das scheint mir ziemlich offensichtlich zu sein“, versuchte er zu scherzen.
„Ich meine nicht das Vögeln.“
„Ich weiß.“
Er streichelte sie zwischen den Schenkeln.
„Ich meine, ich habe nicht den blassesten Schimmer“, fügte sie hinzu. „Ich will dir nicht noch einmal wehtun,
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