Kindsköpfe: Roman (German Edition)
und verschwand gruß- und kusslos. Als der Hund der Nachbarn anschlug, die an dem kleinen Feldweg wohnten, der hinunter zur Straße führte, ging Niklas duschen. Danach rasierte er sich und richtete sich auf der kleinen Terrasse ein, um zu arbeiten.
Doch im Laufe des Vormittags zog ein Wind auf, und die letzten Sonnenstrahlen wurden von finsteren Wolken verschluckt. Die Welt hatte sich, so schien es, ausgerechnet dieses gottverlassene Tal ausgesucht, um unterzugehen. Es wurde so dunkel, dass er ins Haus umziehen und Licht machen musste.
Er hoffte, dass Oliver und die Kinder nicht zum Meer gegangen waren. Der letzte Ort, an dem man das drohende Unwetter erleben wollte, war der Strand. Gerne hätte er sie angerufen, doch Oliver hatte den Akku von Niklas’ Handy mitgenommen. Er schaute aus dem Fenster, und da fuhr auch schon der erste Blitz hernieder, unmittelbar gefolgt von schrillem Donnern. Die ersten Tropfen fielen, binnen weniger Sekunden wurde der Regen dichter. Immer lauter trommelte er auf das Dach der kleinen Casita. Wie ein Vorhang legte sich die Sturzflut von außen vor die Fenster. Es war kaum noch etwas zu sehen. Der nächste Blitz trieb ihn vom Fenster fort, und er versuchte, sich wieder auf seine Arbeit zu konzentrieren. Er tippte ein paar Stichworte ins Notebook, aber seine Gedanken schweiften immer wieder ab.
Die Kinder fürchteten sich vor dem Gewitter. Als er selber noch klein war, hatte er sich beim kleinsten Blitzen und Donnern wie ein Hund unter den Tisch verkrochen. Niklas war ein sehr ängstliches Kind gewesen, vielleicht nicht gerade die Sorte Sohn, die sich ein Vater wünscht.
»Der liebe Gott hat Verdauungsbeschwerden«, hatte der ihm jedes Mal geduldig erklärt und ein Klavierkonzert von Tschaikowsky aufgelegt, so laut, dass man das Donnern nicht mehr hörte oder vielmehr für den Paukenschlag hielt. Dann hatte er dem Jungen unterm Tisch Gesellschaft geleistet, bis alles vorbei war. Die Angst vorm Gewitter hatte Niklas bis heute nicht verloren, aber damals war der Grundstein für seine spätere Liebe zur klassischen Musik gelegt worden und in der Folge auch für sein Außenseitertum, denn als Teenager brauchte er seinen Mitschülern gar nicht mit Bach oder Beethoven zu kommen, dabei hätte er doch gerade zu jener Zeit Freunde gebraucht.
»Verdauungsbeschwerden!«, schnaubte Niklas verächtlich und wollte endlich ein paar Ideen in den Computer hacken, als mit einem weiteren Blitz das Licht in der Casita erlosch. Der Donner ließ nicht lange auf sich warten, wie ein angriffslustig knurrender Hund streunte er durchs Tal und machte vor jeder Tür Radau. Mit einem kläglichen Piepen schaltete sich das Notebook aus. Der Akku war seit einiger Zeit defekt. Unterbrach man die Stromzufuhr, war binnen Sekunden alles aus; was nicht gespeichert war, war fort, als hätte es nie existiert. Fluchend klappte er das Notebook zu und sprang ans Fenster. Draußen war es dunkel, es war Nacht geworden am Nachmittag. Überall im Dorf brannten die Lichter. Die anderen waren offenbar vom Stromausfall verschont geblieben. Der Regen prasselte unaufhörlich auf das Dach der Casita.
Dass Oliver sein Handy unbrauchbar gemacht hatte, ärgerte ihn; nun konnte er nicht mal in Erfahrung bringen, wo sie waren. Er wollte ein Feuer machen, doch er fand keine Streichhölzer. So hüllte er sich in eine Wolldecke und starrte in den dunklen Kamin.
Für einen Moment musste er eingeschlafen sein, denn er wurde von einem Geräusch geweckt. Benommen sah er hinaus. Ein Blitz ging hernieder. Niklas erschrak, als er seine Schwester am Fenster entdeckte. Eine Sekunde, vielleicht zwei schien sie hineinzuspähen, als suche sie ihre Kinder. Dann war es wieder dunkel.
Niklas zog sich die Decke über den Kopf und verfluchte seinen Freund, der ihn hier allein gelassen hatte. Plötzlich hielt er inne. Hatte er Schritte gehört? Unmöglich, nicht bei diesem Wetter, sagte er sich. Da spürte er eine Hand auf der Schulter. Mit einem Aufschrei fuhr er herum. Er konnte die Umrisse eines Mannes erkennen, ein wenig kleiner als Oliver.
»Was wollen Sie hier?«
»Der Strom ist ausgefallen, falls Sie es noch nicht bemerkt haben.«
Es war der Freund der Vermieterin, keine dreißig Jahre alt und rote Wangen wie ein kleiner Junge. Seine Kleidung war durchweicht, das nasse Haar klebte ihm im Gesicht. Er brachte Niklas eine Packung Teelichter und ein Feuerzeug.
»Passiert Ihnen das oft mit dem Strom?«
»Ich muss ins Dorf, neue Sicherungen
Weitere Kostenlose Bücher