Kindsköpfe: Roman (German Edition)
Plötzlich stand Eva neben dem Bett. Sie hielt sich den Bauch, der bedrohlich angeschwollen war. Bereitwillig rückte Oliver zur Seite, um ihr in der Mitte Platz zu machen, und Eva legte sich dazu. Doch als er wieder die Augen schloss, stieß sie Niklas mit ihrem Bauch an, und er fiel aus dem Bett. Das war aber noch nicht das Schlimmste, denn mit einem Mal kletterten lauter kleine Kinder zwischen ihren Beinen hervor, eins nach dem anderen, bis eine ganze Horde durch das Schlafzimmer tollte und kein Platz mehr für Niklas war. Er brüllte seinen Freund an, er möge etwas unternehmen. Worauf Oliver in Evas Unterleib kletterte und darin verschwand. Niklas wachte von seinem eigenen Geschrei auf.
Irgendwo läuteten Kirchenglocken, die alte Kuckucksuhr im Flur krähte achtmal. Er zog sein Kissen über den Kopf, doch die Bilder seines Albtraums kehrten zurück. Also stand er auf.
Mattis war bereits aus dem Haus. Sein alter Freund besuchte einen Kurs, um den Taxischein zu erwerben. Er war zwar ein begabter Graphiker, kam aber aufgrund seiner Vergangenheit bei keiner Agentur unter.
Niklas beschloss, den Morgen zum Joggen zu nutzen. Er war kein großer Fitness-Fanatiker, aber wenn er nicht wenigstens einmal die Woche für eine Stunde rennen ging, hatte er das Gefühl, platzen zu müssen. Der Rhein lag nur fünf Minuten von seiner Wohnung entfernt, doch vorher musste er Pino ausweichen, der gerade vom Großmarkt kam und frisches Gemüse ins Restaurant schleppte. Niklas und Oliver aßen oft bei ihm. Wenn sie sich auf der Straße trafen, plauderten sie kurz. Der Italiener hätte immer auch lange gekonnt, doch dafür war Niklas an diesem Morgen nicht in Stimmung. Also versteckte er sich hinter der alten Kastanie vorm Haus und wartete den Moment ab, da Pino mit einer Kiste Tomaten im Laden verschwand. Dann spurtete er los.
Mit seinem auffallenden Architekturgemisch aus Renaissance und Jugendstil war Oberkassel der schönste und teuerste Stadtteil von Düsseldorf. Niklas fühlte sich hier an seine Kindheit in Hamburg erinnert. Oberkassel hatte im Krieg ganz offensichtlich mehr Glück gehabt als andere Viertel oder Städte; in ganz Köln konnte Oliver ihm nichts Vergleichbares zeigen, was Niklas einen weiteren Vorwand lieferte, niemals dorthin ziehen zu wollen.
Beim Erreichen des Rheins atmete er tief durch. Er liebte den Fluss, wenigstens von seiner Oberkasseler Seite her; drüben war das Ufer zubetoniert, hier säumten den Strom satte grüne Wiesen, auf denen manchmal noch Schafe grasten. Das Beste aber war das Haus, das an der Uferstraße stand: Es war aus dunkelrotem, grobem Backstein gebaut, und an den Fenstern hingen weiße Läden. Zur Rheinseite befanden sich parterre ein Bullauge und ein Fenstervorsprung, über dem ein kleiner Balkon mit geschwungener weißer Balustrade hing. Der Clou aber war der Turm: Man hatte ihn an den vorderen Giebel gebaut und rundum verglast. Ein idealer Ort für Arbeitszimmer, Salon oder Wintergarten.
Niklas trat näher. Wie immer war keine Menschenseele zu sehen, weder auf dem Balkon im ersten Stock noch im gepflegten Garten, der zur Flussseite von einer ordentlich gestutzten Hecke und in der Seitenstraße von einem breiten, knapp mannshohen Gemäuer begrenzt war. Hier befanden sich eine Pforte aus schwerem Metall sowie ein Klingelschild aus Messing, allerdings ohne namentlichen Hinweis auf die Bewohner des Hauses.
Niklas lief weiter. Die frische Luft tat gut. Hin und wieder begegnete er joggenden Pärchen, Fahrradfahrern und Leuten, die ihren Hund spazieren führten. Er grüßte seine Nachbarin, die alte Frau Metternich, die sich mühsam mit einem Gehstock fortbewegte.
Mit jedem seiner Schritte fielen die negativen Gedanken vom Vortag von ihm ab; offenbar vertrugen sie sich nicht mit dem Sauerstoff. Er bereute es, dass er Oliver hinterherspioniert hatte. Seine Eifersucht war idiotisch, aber er wollte seinen Freund nun mal nicht verlieren.
Nachdem der Wind ihm den Kopf zurechtgerückt hatte, beförderte er Niklas auf die Rheinkniebrücke, die seinen Stadtteil mit dem Rest Düsseldorfs verband. Von hier hatte man einen herrlichen Blick auf Oberkassel, aber auch auf die Ausläufer der Altstadt gegenüber. Die Uferpromenade musste inzwischen gut zehn Jahre alt sein, aber Niklas konnte sich jetzt schon nicht mehr erinnern, wie es dort vorher ausgesehen hatte. Hinter dem, was die Düsseldorfer ›Spanische Treppe‹ nannten und wo sich im Sommer junge Leute versammelten und wie in einem
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