Kindsköpfe: Roman (German Edition)
befragt, doch sie hatte ihn lediglich darüber informiert, dass die Sache erledigt sei, und er hatte es dabei belassen.
Im Juli beherbergte die Stadt die größte Kirmes am Rhein; wie jedes Jahr kamen Schausteller aus halb Europa nach Oberkassel, bauten am Fluss ihre Fahrgeschäfte auf, andere verkauften Zuckerwatte und Fischbrötchen, kandierte Trauben und eingelegte Salzgurken, die die Menschen bei ihren Kollegen wieder auskotzten, nachdem ihre Mägen ein paar Runden gedreht hatten. Niklas war froh, wenn die Leute wieder weg waren; die neun Tage hatten etwas von Besatzung, Polizisten mussten die Seitenstraßen vor Wildparkern schützen, und er fühlte sich fremd in seinem Viertel. Wer von den Belagerern erinnerte sich überhaupt, dass die Ursprünge der Kirmes auf das Kirchweihfest von Sankt Lambertus in der Altstadt zurückgingen, der Basilika mit dem schiefen Turm? Ja, Inken hatte es natürlich gewusst und mit ihm geteilt, aber wer erzählte es den Kindern?
Er hatte sie so lange nicht gesehen, dass er sich Entsetzliches ausmalte: Lotte mit verfilzten Haaren, Hannes mit Ärmchen, so dünn wie Kugelschreiber – Kinder, denen lästige Schmeißfliegen in den Nasenlöchern saßen, weil sie zu schwach waren, die Viecher fortzujagen: eine Vorstellung, gegen die die Schreckensbilder aus Entwicklungsländern, wie sie gerne vor Weihnachten bei Spendenaufrufen im Fernsehen gezeigt wurden, wie Panoramaaufnahmen aus Urlaubskatalogen wirkten. Würden ihn die zwei erkennen, wenn er sie wiedersah? Ihm zur Begrüßung die Hand geben oder ihn zu siezen anfangen?
Um nicht vollkommen in Vergessenheit zu geraten, packte er ihnen kleine Pakete und schrieb Briefe, in denen er ihnen erklärte, dass er es momentan nicht einrichten konnte, sie zu besuchen, aber er hoffte, sie bald wieder zu treffen. Er vergaß nie, Grüße von Oliver auszurichten, auch wenn Funkstille herrschte seit jenem Abend – Niklas hatte ihm nicht mal zum 39. Geburtstag gratuliert.
Natürlich sandte er die Post nicht zu den Kindern nach Hause, sondern ließ sie von seiner Mutter überbringen, da Maki mit Beginn des neuen Schuljahres als Botin leider ausschied.
»Ihre neuen Eltern sind komisch«, begründete sie ihre Weigerung, Lotte in Mettmann zu besuchen. »Du und Oliver, ihr wart schon komisch, aber das geht gar nicht!«
Weil ihm der Kontakt mit Lotte fehlte, besuchte er sie beim Schwimmunterricht. Sie sprachen dann nicht miteinander, das war zu gefährlich. Es musste genügen, die Kleine zu beobachten und ihr unauffällig vom Beckenrand zuzuwinken. Sie würde ihn niemals verraten, das wusste er; dazu war sie zu clever, und ihre neue Sportlehrerin kannte sein Gesicht nicht.
Jeden Mittwochvormittag hatte Niklas frei, dann fuhr er nach Mettmann und setzte sich ins Schwimmbad. Von seiner Liege beobachtete er, wie Lottes Klasse Fortschritte machte. Gegen Ende des Unterrichts schwamm er selbst ein paar Runden, und wenn ihm das Mädchen in der Nachbarbahn begegnete, lachten sie einander an, und im Laufe der Zeit wagten sie es sogar, ein paar Worte zu wechseln. Danach kehrte er mit aufgewühltem Herzen in die Agentur zurück.
Über diesen heimlichen Begegnungen wurde es Herbst, und im Oktober fanden seine Mittwochsausflüge nach Mettmann ein jähes Ende. Eines Morgens, er machte es sich mit der Zeitung auf einer Liege gemütlich, während Lotte und ihre Mitschüler sich um die Lehrerin verteilten, um sich das Kraulen erklären zu lassen, da stand plötzlich der Bademeister vor ihm.
»Es reicht jetzt. Ich muss Sie bitten, mir zu folgen!«
»Stimmt was nicht?« Er legte seine Zeitung weg.
»Das kann man wohl sagen.«
Niklas folgte dem Mann und erkannte schon von weitem in dem rundum verglasten Büro die beiden Polizistinnen. Sie begleiteten ihn zu seinem Schrank, wo er sich ausweisen musste. Die Erste notierte seine Personalien und wies ihn darauf hin, dass er ab sofort Hausverbot in der Schwimmhalle hätte und sich nicht mehr blicken lassen sollte. Die Zweite beschimpfte ihn als perverses Schwein und wollte wissen, ob er vor erwachsenen Frauen Angst hätte oder warum er sich sonst an Minderjährigen aufgeilte? Da musste Niklas doch sehr lachen.
Er zog sich an und fuhr in die Agentur, wo ihn der Anruf seiner Anwältin erreichte: Seine Verhandlung sollte endlich im Dezember stattfinden.
Über dem Hauptportal des Gerichtsgebäudes thronten sechs Monumentalfiguren aus Granit. Sie schienen auf Niklas herabzusehen, als er mit seiner Anwältin aus dem Taxi
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