Kindsköpfe: Roman (German Edition)
stieg. Wie lange hatte er auf diesen Moment gewartet?
»Die Herren symbolisieren Weisheit und Tapferkeit, Besonnenheit sowie Gerechtigkeit«, erklärte Tita Parese.
»Dann kann ja nichts mehr schiefgehen.«
»Viel Glück!«, rief Mattis und fuhr hupend davon.
In der Eingangstür kontrollierte Niklas sein Äußeres. Er hatte sich am Morgen beim Rasieren geschnitten; inzwischen hatte die Blutung nachgelassen, er konnte das Pflaster entfernen.
Im Foyer herrschte leicht gedämpftes Licht, das durch die milchigen Fenster hereinfiel. Hinter mächtigen Säulen erhob sich eine Treppe, die sich auf mittlerer Höhe nach links und rechts verzweigte. An der Kopfseite der ersten Etage befanden sich zwei weitere, bescheidenere Säulen, in die zwei grimmige Gesichter verarbeitet waren. Sie trugen eine Art Balkon der darüber befindlichen zweiten Etage: Dort lag, etwas zurückgesetzt, ihr Sitzungssaal.
Auf dem Flur wartete bereits Wolfram mit seiner Frau. Zum ersten Mal seit der Hochzeit mit Inken sah Niklas ihn in einem Anzug. Petra trug ein schlichtes dunkelrotes Kostüm; im Ausschnitt baumelte, gut sichtbar, das kleine silberne Kreuz. Sie begrüßten einander knapp. Als wenig später Frau Tiedemann dazustieß, besaß Wolfram die Kühnheit, seiner ehemaligen Schwiegermutter die Wangen zu küssen. Ihr folgte ein massiger Mann, der sich zu Wolfram und Petra gesellte. Ihr Anwalt, der sie um einen ganzen Kopf überragte, wirkte wie die menschliche Ausgabe eines Kampfhundes: Dr.Nonninger hatte einen ovalen Kopf mit kleinen kalten Augen, und sein Hals, vielleicht war es auch das Doppelkinn, quoll über dem Kragen seines weißen Hemdes hervor. In seinem Gefolge befand sich eine zierliche junge Frau, die eine Art Umzugskarton heranschleppte. Der Kampfhund bellte ein knappes Danke und schickte sie fort.
»Wenn es heute darum geht, wer den dicksten Anwalt hat, dann steht es schlecht für uns«, flüsterte Niklas dem Kobold zu.
»Keine Sorge. Ich habe im Vorfeld beantragt, ausnahmsweise auf das Schauwiegen zu verzichten.«
Niklas nickte zufrieden, Tita Parese wirkte gut gelaunt.
Dann wurden sie per Lautsprecher aufgerufen, einzutreten.
Der Richter war ein kleiner Mann mit Halbglatze. Die angegrauten Härchen seines Vollbartes verdeckten seine Oberlippe, wenn er nicht sprach. Heinz-Günther van der Ohe hatte wache, freundliche Augen und eröffnete den Prozess mit einem Lächeln, das ihm recht bald vergehen sollte.
»Ich möchte uns eingangs das Ziel in Erinnerung rufen, das uns hoffentlich verbindet: das Wohl der Kinder. Das wollen wir bitte nicht aus den Augen verlieren, meine Damen und Herren.«
Nachdem er Nonninger das Wort erteilt hatte, begann dieser mit der Befragung Wolframs.
»Herr Bayer, erzählen Sie uns bitte aus Ihrer Sicht, was sich am Nachmittag des 30.Mai dieses Jahres zugetragen hat.«
Wolfram klang unsicher und betonte jedes Wort, als müsse er vor versammelter Klasse ein Gedicht aufsagen.
»Meine Frau wollte die Kinder nach der Arbeit bei der Großmutter abholen. Leider war ihr Auto kaputt, und darum hat es etwas länger gedauert, bis sie endlich bei meiner Ex-Schwiegermutter ankam. Aber die Kinder waren spurlos verschwunden.«
»Wir waren im Kino und haben Pippi Langstrumpf gesehen!«, fiel Niklas ein. »Seit wann ist das ein Verbrechen?«
»Darf ich um etwas Zurückhaltung bitten, Herr Tiedemann«, wies ihn der Richter freundlich zurecht. »Sie haben später Gelegenheit, sich zu der Sache äußern.«
»Die Kinder waren also verschwunden«, fuhr Wolframs Anwalt fort, »was hat Ihre Frau daraufhin unternommen?« Er senkte den Kopf, sodass sein fetter Hals fast den obersten Knopf des Hemdes sprengte.
»Petra rief mich an, ganz aufgeregt, und sagte: Komm schnell nach Düsseldorf. Niklas … also … Herr Tiedemann hat die Kinder. Und Magda weiß nicht, wo sie stecken. Magda ist meine ehemalige Schwiegermutter.«
»Was haben Sie dann getan?«
»Wir haben die Polizei gerufen.«
»Aber Herr Tiedemann ist Ihr ehemaliger Schwager!« Nonninger riss mit gespieltem Erstaunen seine Augen weit auf, was sie noch wahnsinniger wirken ließ. »Hatten Sie denn berechtigten Anlass zu glauben, er könnte Ihren Kindern etwas antun? Ist der Beklagte früher schon einmal negativ aufgefallen, etwa durch gewalttätiges Verhalten?«
»Gewalttätiges Verhalten?«, zischte Niklas seiner Anwältin zu. »Ich glaube, einer von uns ist im falschen Gerichtssaal!«
Tita Parese griff nach seiner Hand und drückte kurz, aber mit
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