Kindspech: Tannenbergs achter Fall
weil diese Person unzweifelhaft am 9. August 2002 auf tragische Weise ums Leben gekommen und kurz darauf von Dr. Schönthaler obduziert worden war. Und somit logischerweise nicht als Entführer von Emma in Betracht kommen konnte.
»Ich kapier allmählich überhaupt nichts mehr«, seufzte Tannenberg und versank noch tiefer in seinem Couchsessel. »Lars Mattissen? Was hat der denn mit Emmas Entführung zu tun?«
»Vielleicht steckt jemand dahinter, der seinen Tod rächen will«, spekulierte Dr. Schönthaler.
Tannenberg sprang wie von einem Katapult geschleudert von seinem Sessel auf und reckte beschwörend die Hände in die Höhe. »Ja, aber warum denn an mir?«, stieß er verzweifelt aus. »Ich hab ihn damals doch gar nicht erschossen. Das war doch dieser Waldrambo, dieser bescheuerte Kreilinger.«
»Natürlich, das wissen wir alle ja. Wir waren damals schließlich dabei.«
»Genau! Also, was will dieser Irre dann von mir? Los, los, meine Herrschaften, ich warte auf eure Erklärungsansätze – ich hab nämlich keine.«
»Du hast diesen Mattissen zwar nicht getötet«, bemerkte Sabrina, »du kannst aber trotzdem für seinen Tod verantwortlich gemacht werden.«
»Welch ein ausgemachter Blödsinn!«, polterte ihr Chef zurück. »Lars hatte seinen Tod doch von vornherein einkalkuliert – suicide by cop, wie die Amis sagen. Tod durch die Kugel eines Polizeibeamten als Schlusspunkt eines Amoklaufs, der mehreren unschuldigen Frauen das Leben gekostet hat. Er wollte, dass ich ihn erschieße. Aber ich habe es nicht getan, verdammt noch mal! Und da unterstellst du mir, ich sei für seinen Tod verantwortlich. Das ist wirklich ein starkes Stück!«
»Entschuldige, Wolf, so hab ich das doch gar nicht gemeint«, versetzte Sabrina betroffen. »Ich wollte damit doch nur sagen, dass derjenige, der es auf dich abgesehen hat, dich offenbar dafür verantwortlich macht – er, nicht ich!«
»Womit sie nicht gerade unrecht hat, mein alter Freund«, sprang Dr. Schönthaler der jungen Kommissarin zur Seite. »Also müssen wir uns fragen, wer aus Lars Mattissens Umfeld für solch einen Rachefeldzug infrage kommen könnte.«
Tannenberg wirkte ausgesprochen zerknirscht. Er hatte sich von Sabrinas Recherche vielversprechendere Ergebnisse gewünscht, nicht den Hinweis auf einen getöteten Serienmörder. Mit mürrischem Gesichtsausdruck schüttelte er den Kopf.
»Leute, das ist doch völliger Quatsch«, fauchte er ungehalten, »warum sollte denn irgendjemand so etwas Verrücktes tun? Und dann auch noch sechs Jahre später?« Er zog den Aktenordner vom Couchtisch auf seine Oberschenkel und blätterte darin herum.
»Ja, das ist schon merkwürdig«, meinte die junge Kommissarin.
»Wenn ich mich einigermaßen richtig entsinne, war Lars ziemlich isoliert«, fuhr ihr Vorgesetzter fort. »Er hatte sich lange Jahre um seine am Ende bettlägrige Mutter gekümmert …« Er hielt inne, hatte das Datenblatt mit den Familienverhältnissen Lars Mattissens entdeckt. »Da steht’s schwarz auf weiß: Er war unverheiratet, sein Vater ist bereits lange vor der Mutter verstorben, er hat weder Geschwister noch sonstige Verwandtschaft. Also von der Seite her gibt es anscheinend überhaupt niemanden, der ihm sehr nahegestanden hat.«
»Enge Freunde?«, fragte Sabrina.
Tannenberg schob die Unterlippe vor und schüttelte abermals den Kopf. »Nee, das kann ich mir beim besten Willen nicht vorstellen. Der kam irgendwann in der Oberstufe zu uns in die Klasse und war damals schon ein totaler Außenseiter. Für mich ist es undenkbar, dass er später intensive Freundschaften gepflegt hat. Das hätte seine herrische Mutter wohl auch nicht zugelassen.«
Es war das erste Mal seit den dramatischen Ereignissen vor genau sechs Jahren, dass er diese Fallakte wieder in seinen Händen hielt. Er zog ein großes Foto seines ehemaligen Klassenkameraden aus der Klarsichthülle und betrachtete es eingehend. Das farbige Porträtfoto zeigte einen etwa 35 Jahre alten, sympathisch wirkenden, intelligenten Mann, dem wohl kaum jemand eine brutale Mordserie zugetraut hätte. Tannenberg verstand bis heute nicht richtig, was im Hirn dieses beruflich durchaus erfolgreichen Akademikers damals vorgegangen war.
Er blätterte um, entnahm die Fotos, die auf dem Waldparkplatz des Naturfreundehauses im Finsterbrunnertal aufgenommen worden waren und den mit einem Kopfschuss getöteten Lars Mattissen zeigten. Er breitete sie auf seinem Couchtisch aus. »Was um alles in der Welt soll denn
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