Kindspech: Tannenbergs achter Fall
Erpresserstimme: »Werfe den Rucksack auf das Kommando ›jetzt‹ aus dem Zug.«
Es entstand eine kleine Pause. Das Handy ans Ohr gepresst, legte Tannenberg den Rucksack auf die Fensteröffnung. Der Regionalexpress verringerte die Geschwindigkeit.
»Jetzt!«, quäkte es aus dem Handy.
Mit Schwung schleuderte Tannenberg den Rucksack hinaus in die dunkle Nacht. Anschließend schob er den Kopf in den kräftigen Fahrtwind und blickte in Richtung der Abwurfstelle. Da der Zug jedoch gerade eine Rechtskurve befuhr, nahm er ihm die Sicht dorthin.
23 Uhr
Blendend gelaunt kehrte er nach Kaiserslautern zurück. Trotz der fortgeschrittenen Stunde waren noch ungewöhnlich viele Passanten auf der Straße unterwegs. Er fuhr sein Auto in die Garage und zog den Rucksack über. Zufrieden rief er sich den Ablauf der letzten Stunden in Erinnerung. Sein Plan hatte perfekt funktioniert. Er hatte den Regionalexpress mit dem Feldstecher beobachtet und Tannenberg exakt im richtigen Moment das Kommando gegeben. Fast haargenau an der vorausberechneten Stelle hatte er den Rucksack gefunden. Er war unversehrt und lag am Fuße des Bahndamms mitten auf einem geschotterten Fahrweg. Gleich an Ort und Stelle hatte er dessen Inhalt inspiziert und nach einem versteckten Peilsender gesucht, aber nichts Derartiges entdecken können.
Na, wenn das kein Grund zum Feiern ist, sagte er zu sich selbst, als er die Küche betrat. Und die süße kleine Emma feiert jetzt mit mir.
Kurz zuvor hatte er einen Blick auf den Überwachungsmonitor geworfen. Emma war wach. Sie saß mit dem Rücken an die Gitterstäbe gelehnt und spielte mit einer Babypuppe. Er hatte sie ihr gestern gekauft und damit offenbar genau ihren Geschmack getroffen. Da Emma offenbar Kaba nicht sonderlich gut vertrug, bereitete er ihr eine Flasche Kindertee zu und steckte sie gemeinsam mit einer Packung Butterkekse in eine Jutetasche. Anschließend entnahm er dem Kühlschrank eine Flasche Champagner und dem Regal ein langstieliges Glas. Zum Schluss besorgte er sich im Wohnzimmer eine Couchdecke und ging hinunter in den Keller. Von euphorischen Gefühlen zutiefst beseelt, dachte er weder an den ansonsten obligaten Mundschutz noch an die Einweghandschuhe.
Zur Feier des Tages öffnete er den Gitterkäfig und befreite Emma aus ihrem Gefängnis. Er breitete die Decke aus und überreichte dem kleinen Mädchen Trinkflasche und Kekse. Emma hatte offensichtlich großen Hunger, denn sie machte sich sogleich gierig über die Butterkekse her. Die offene Packung in der rechten Hand, die Flasche am Mund, schlenderte sie durch den tristen Raum. Dann setzte sie sich in etwa einem Meter Entfernung von ihrem Entführer auf die flauschige Wohndecke.
»Nicht erschrecken, Kindchen, es knallt gleich«, sagte er mit sanfter Stimme. »Halte dir am besten die Öhrchen zu.« Da er sich nicht sicher war, ob Emma verstand, was er meinte, demonstrierte er es pantomimisch.
Emma tat es ihm gleich und presste ihre winzigen Hände auf die kleinen Ohren.
»Gut so, Emma«, lobte er und entkorkte den Champagner. Er befüllte sein Glas, prostete Emma zu und trank es in einem Zug leer. Anschließend goss er nach und leerte den Sektkelch abermals mit nur wenigen Schlucken.
»Ham, ham«, sagte Emma und hielt ihm die Kekspackung hin.
»Nein, danke, ich betrinke mich jetzt lieber. Du bist mir vielleicht eine Marke. Ich hätte niemals gedacht, dass es das Stockholm-Syndrom auch bei kleinen Kindern gibt.« Er trank ein weiteres Glas Champagner. »Weißt du, was das ist?«
Diesmal konnte ihm Emma verständlicherweise nicht folgen.
Er lachte. »Kein Wunder. Also: Mit dem Stockholm-Syndrom bezeichnet man ein kurioses Verhalten von Entführungsopfern. Und zwar hat sich gezeigt, dass Geiseln oft größere Sympathien für ihre Entführer entwickeln als für die Polizei, die sie ja schließlich retten will. – Komisch, nicht?«
Emma betrachtete ihn interessiert und schob dabei einen Keks nach dem anderen in den Mund.
»Die Geiseln bauen während ihrer Gefangenschaft häufig eine enge Beziehung zu ihren Entführern auf und setzen sich nach ihrer Freilassung für diese Leute ein. Manche von ihnen besuchen ihre Entführer auch im Gefängnis.« Schmunzelnd schüttelte er den Kopf. »Es gab sogar schon welche, die haben sich in ihre Entführer richtig verliebt. Verrückt, oder?«
Er nahm einen großen Schluck Champagner. »Bei dir ist es doch genauso gewesen. Wenn ich daran denke, wie reserviert und abweisend du dich am
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